Bauen im Bestand – die Herausforderungen für Ingenieur:innen im Berufsalltag
Das Bauen im Bestand ist essenziell, um die von der Baubranche verursachten CO2-Emissionen zu reduzieren. Viele bestehende, teilweise ungenutzte Gebäudestrukturen bergen das Potenzial für Erweiterung, Umbau und Modernisierung, um folglich neu oder anders genutzt zu werden. Indem man dem Bestandsbau ein neues Leben verleiht, muss für die benötigte Nutzung kein Neubau entstehen – das spart Ressourcen und ist damit ein aktiver Beitrag zum Klimaschutz. Die steigende Relevanz vom Arbeiten in und mit Bestandsbauten und das damit einhergehende erforderliche Know-how sind für viele Tragwerksplanende neu und bringen daher, ebenso wie fehlende Regelwerke und Grundlagen, einige Schwierigkeiten mit sich.
Um die tragende Struktur und statische Zusammenhänge eines bestehenden Bauwerks verstehen zu können, spielen die für den Bau verwendeten grundlegenden Unterlagen (statische Berichte, Bewehrungspläne etc.) eine wichtige Rolle. Oft sind diese nur noch teilweise vorhanden oder zeigen Unterschiede in den Informationen zum gleichen Bauteil (z. B. Betondeckung oder -güte, Bewehrungsangaben). Ob es sich bei dem vorliegenden Dokument jedoch um die finale Version handelt, bleibt Spekulation. Der Zeitaufwand für die Suche und aufmerksame Sichtung dieser Unterlagen ist riesig, jedoch enorm wichtig und muss geschehen, bevor die Umbau- und/oder Erweiterungsmaßnahme (die eigentliche Bauaufgabe) genauer betrachtet wird.
Je nach dem Errichtungszeitraum des betreffenden Gebäudes unterscheiden sich die eingesetzten Baumaterialien. Man kann den Materialien zwar jeweils ein Äquivalent von derzeit genormten Baustoffen zuordnen, diese besitzen jedoch nicht zu 100 % die gleichen Materialeigenschaften und das Alter und ggf. vorliegende Mängel werden darin nicht beachtet. Da in den Nachkriegsjahren vorwiegend mit Beton und Stahl gebaut wurde, betrifft dies überwiegend Betonfestigkeiten und Stahlsorten. Außerdem ist es oft nicht eindeutig oder für Tragwerksplanende nicht offensichtlich, welche aktuellen Regelwerke zur Untersuchung von Bestandsbauteilen herangezogen werden sollen und dürfen. Das liegt zum einen an der Konzentration von Normen auf Neubauten und zum anderen schlichtweg am fehlenden Wissen im Umgang mit Bestandsbauten. Vor allem junge Ingenieur:innen, die noch nicht auf Erfahrungen im Beruf oder aus anderen Projekten zurückgreifen können, stoßen hier auf eine große Herausforderung.
Diese Herausforderung und die Notwendigkeit, die Tragstruktur im Detail zu verstehen, bilden die Grundlagen, um die Möglichkeiten der Umbau-, Aufstockungs- oder Erweiterungsmaßnahmen zu bestimmen. Die Intensität, mit der an die Aufgabe des Bauens im Bestand herangegangen werden muss, ist zwar ohne Frage zeitaufwendig, bietet aber die Chance, das Bauwerk genau zu analysieren. Dadurch können z. B. eventuelle Tragreserven gefunden werden, die dem Umbau oder der Aufstockung bzw. Erweiterung zugutekommen und neue Optionen bieten. Es ist spannend, nachzuvollziehen, wie in der Vergangenheit gebaut wurde. Zu sehen, was nach damaligem Stand der Technik erlaubt war (z. B. 16 cm dicke Bodenplatte in Gebäuden aus den 1970er-Jahren) und bis heute besteht, kann uns motivieren, die heutigen Normen zu hinterfragen und materialsparendes Bauen wieder mehr in den Fokus zu rücken, v. a. mit Augenmerk auf die aktuell verbaute Beton- und Stahlmenge. Neben der allgemeinen Nachhaltigkeit des Bauens im Bestand können wir als Tragwerksplanende von der intensiven Beschäftigung mit dem Bestandsbau profitieren. Wir können an der Individualität jedes Bestandsprojekts lernen, daran wachsen, zu Expert:innen werden und einen positiven Beitrag zur Bauwende leisten. Bauen im Bestand ist zukünftig unumgänglich und wird hoffentlich bald zur alltäglichen Arbeit vieler Tragwerksplanender werden.