Stuttgarter Nachhaltigkeits­stammtisch

Dachgärten um jeden Preis?

Die Popularität von Dachgärten ist in den letzten Jahren aufgrund von ästhetischen, ökologischen und energetischen Vorteilen stark angestiegen. Bei allen positiven Eigenschaften, die die Aufwertung von Dachflächen mit intensiver Begrünung mit sich bringt, ist die Belastung für das Tragwerk oft um ein Vielfaches höher als bei einem herkömmlichen Dachaufbau oder einer Geschossdecke. Wir möchten an dieser Stelle daher einmal aus dem Blickwinkel von Tragwerksplaner:innen die Auswirkungen eines ausgiebig begrünten Dachgartens beschreiben.

Oftmals werden die Tragwerksstrukturen nicht darauf angepasst, vernachlässigt oder müssen aufgrund der hohen Belastung, welche mit der Ausbildung eines Dachgartens einhergeht, derart verstärkt werden, dass die eigentliche Idee, die Umwelt zu unterstützen, eher umgekehrt wird.

Mit der Komplexität des Dachgartens steigen die Substrataufbauhöhen und auch die Ausbaulasten – schematisch sind die Mindestanforderungen dargestellt
Mit der Komplexität des Dachgartens steigen die Substrataufbauhöhen und auch die Ausbaulasten – schematisch sind die Mindestanforderungen dargestellt

An der grundlegenden Idee, eine urbane Oase inmitten der vorherrschenden Betonwüsten zu schaffen, sollte natürlich festgehalten werden. Jedoch stellt sich die Frage der Sinnhaftigkeit, jeden Neu- und Umbau mit einer bewachsenen Fassade oder einem Dachgarten zu versehen. Das Hauptaugenmerk sollte jedoch sein, ein Gebäude mit möglichst geringen grauen Emissionen zu entwickeln. Das heißt, dass die zusätzlichen Belastungen bei der Erarbeitung von Tragwerkskonzepten und damit auch in der Gebäudearchitektur (Stichwort Spannweiten) frühzeitig berücksichtigt werden. Oftmals wird die Entscheidung der Dacheindeckung bereits in der Konzeptphase getroffen, in der noch keine konkreten statischen Vorbemessungen der Planung beigesteuert wurden. So müssen im weiteren Planungsverlauf dem Gebäudekonzept Unterstützungsmaßnahmen oder zusätzliche Tragwerkselemente zugeordnet werden. Es ist möglich, das Tragwerk auf die hohen Belastungen auszulegen, diese Anpassungen können jedoch maßgebliche Eingriffe in die Architektur oder das Gebäudekonzept bedeuten und werden daher zumeist nicht durchgeführt. Zudem wird der Bauherrenschaft eine Steigerung der Planungskosten vermittelt, wenn derartige Umplanungen vorgeschlagen werden. Dass durch die angestrebten geometrischen oder materialtechnischen Anpassungen (z. B. leichte Verfüllmaterialien in der Landschaftsarchitektur) die Bauherrenschaft zum Teil jedoch noch Geld sparen kann, wird i. d. R. nicht für möglich gehalten.

Infolgedessen wird der Entwurf, welcher nicht unbedingt für die hohen Ausbaulasten ausgelegt ist, bis zur architektonischen Genehmigungsphase durchgearbeitet. Demzufolge ergeben sich daraus bei branchenüblichen Spannweiten bspw. Unterstützungen der Decken durch großformatige Unterzüge, Spannbetonbinder oder eine Erhöhung der Deckenstärken bei Flachdecken auf h > 32 cm. Die Last eines Dachgartens setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen. Einschließlich des Gewichts der Pflanzen, des Substrats, des Wasserhaltevermögens und der Bewässerungssysteme können Aufbauten intensiv begrünter Dächer bis zu 1700 kg/m² Gewicht mit sich bringen. Dabei wird zwar die Wassersättigung des Substrats bereits berücksichtigt, jedoch werden Gründächer zumeist als Retentionsdächer ausgeführt, welche einen zusätzlichen Wasseranstau von bis zu 10 cm ermöglichen. In Summe müssen somit knapp 2000 kg/m² als Ausbaulast angesetzt werden.

Insgesamt können Dachgärten eine sehr gute Möglichkeit sein, Gebäude bzw. die städtebauliche Umgebung zu verbessern, indem sie einen wertvollen Lebensraum für Pflanzen und Tiere bieten, Regenwasser speichern und CO2 absorbieren. Jedoch sollten die potenziellen Auswirkungen auf die Statik sowie den Lastabtrag sorgfältig und frühzeitig berücksichtigt werden, um nicht einen hohen Preis für die Ausbildung des Dachgartens zahlen zu müssen. Es benötigt folglich eine enge Zusammenarbeit der Fachplaner:innen, die den Mehrwert für die Umwelt und die Nutzer:innen den Mehrkosten und den negativen Auswirkungen auf das Global Warming Potential durch ein aufwendigeres Tragwerk gegenüberstellen und bewerten. Die Zielsetzung aller Planungsbeteiligten sollte schließlich sein, dass die Dachgärten bzw. die Gebäude mit einem solchen Aufbau auch wirklich der Nachhaltigkeit dienen.


Stuttgarter Nachhaltigkeitsstammtisch

Termin: jeder letzte Dienstag im Monat, 18.00 Uhr
Ort: online, MS-Teams
Kontakt: sustainability@knippershelbig.com

Jobs

ähnliche Beiträge

Regulierungen für die Kreislaufwirtschaft

Überblick zur europäischen Gesetzgebung für Gebietskörperschaften.

Graue Emissionen von Deckensystemen in Beton- und Holzbauweise

Entwicklung eines Benchmarksystems

Die Erderwärmung ist greifbar

Climate Pulse: globale Klimadaten in Beinahe-Echtzeit.
Vorheriger ArtikelIm Gespräch mit Reiner Nagel
Nächster ArtikelA4F konstruktiv