Im Gespräch mit Reiner Nagel

Die goldene Energie und der Paradigmenwechsel beim Bauen

Reiner Nagel, Vorsitzender Bundesstiftung
Baukultur
Quelle: Lidia Tirri für die Bundesstiftung Baukultur
Reiner Nagel, Vorsitzender Bundesstiftung Baukultur
Quelle: Lidia Tirri für die Bundesstiftung Baukultur

Die Bundesstiftung Baukultur erstellt alle zwei Jahre mit einem großen Kreis an Experten und Expertinnen einen Bericht zur Baukultur in Deutschland und greift dafür aktuelle Themen auf. Bernhard Hauke hat mit Reiner Nagel, dem Vorstandsvorsitzenden der Bundesstiftung Baukultur, über den Baukulturbericht 2022/23 Neue Umbaukultur und die sich daraus ergebenden möglichen, ja wahrscheinlichen Änderungen in der Art, wie wir bauen oder eben umbauen, gesprochen.

Glückwunsch zum Baukulturbericht 2022/23 Neue Umbaukultur, der spätestens seit dem Konvent der Baukultur im Frühsommer 2022 dringend erwartet wurde. Wie wurde das Thema festgelegt?

Reiner Nagel: Wir haben den gesetzlichen Auftrag, alle zwei Jahre sogenannte Berichte zur Lage der Baukultur dem Bundeskabinett vorzulegen. Wir verbinden das immer mit der Setzung eines in die Zukunft projizierten, baukulturell wichtigen Themas. Das war 2019, als wir mit unserem Beirat das neue Thema diskutiert haben, der absehbare Bedeutungszuwachs des Bestands und dessen Umbaus, allein aus Gründen des Klimaschutzes. Es ging uns dabei von Anfang an um eine neue Sichtweise auf den Umbau, der ja traditionell Grundlast des Planens und Bauens ist. Wir wollten dem bisherigen Schwarzbrotthema eine neue Konjunktur verschaffen und die Fragen einer künftigen Umbaufähigkeit des Neubaus mit behandeln.

Was ist Umbaukultur und was ist eigentlich neu daran?

R. N.: Umbaukultur ist ein lösungsorientierter Ansatz, dem Bestand und dessen Transformation mehr Geltung zu verschaffen. Das betrifft unsere gebaute Umwelt, deren öffentliche und private Räume, die Gebäude bis zu den technischen Bauwerken. Tatsächlich haben wir in unserer etwa 7000-jährigen Siedlungsgeschichte meistens am Bestand um- oder weitergebaut. Erst seit dem Siedlungswachstum nach der Industrialisierung haben wir zunehmend neubauorientierte Techniken entwickelt. Heute ist unser gesamtes Planungs- und Bauwesen auf den Neubau oder Ersatzneubau ausgerichtet. Das widerspricht den anhaltend hohen und zunehmenden Bauaufgaben im Bestand. Hierauf wollen wir uns neu ausrichten, aber auch ein neues, zeitgenössisches Gestaltungspotenzial aufschließen.

Wann und warum ist die alte Umbaukultur ins Hintertreffen geraten und was können wir heute daraus lernen?

Ein „Weiter so“ im Bauwesen wäre das Ende aller Klima­ambitionen

R. N.: Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg ist in den 1970er-Jahren nahtlos in ein beispielloses Flächen- und Siedlungswachstum übergegangen. Die Grenzen dieses Wachstums sind vom Club of Rome zwar schon vor mehr als 50 Jahren genannt worden, passiert ist aber nichts. Im Gegenteil – als Folge der Finanz- und Konsumgüterkrisen hat seit der letzten Jahrhundertwende die Inanspruchnahme von Siedlungs- und Verkehrsflächen und damit der Neubau nochmal um 20 % zugenommen. Diese durch Boden- und Immobilienspekulation zusätzlich angeheizte Neubaukonjunktur hatte fast eine rauschhafte Dimension. Lernen können wir daraus, dass wir wieder verstärkt zu verantwort­lichem Handeln übergehen müssen und uns mit dem auseinandersetzen, was wir uns als Bestand bereits angeschafft haben. Das sind pro Einwohner in Deutschland 361 t Material, etwa zur Hälfte gebunden in Gebäuden und in technischen Bauwerken. Wenn wir allein unseren Gebäudebestand heute nochmal neu herstellen würden, entspräche das pro Einwohner einem CO2-Ausstoß von 70 t. Ein „Weiter so“ im Bauwesen wäre damit auch das Ende aller Klimaambitionen.

Bedeutet neue Umbaukultur dann in gewisser Weise das Ende der Moderne, der Neubaukultur, die seit den 1920er-Jahren unsere Baukultur geprägt hat?

R. N.: Nein, ganz im Gegenteil. Nur 10 % unseres Gebäudebestands sind älter als 100 Jahre. 90 % der Gebäude und Bauwerke sind nach 1920 gebaut und somit Gegenstand einer Umbaukultur, die sie jetzt mit anspruchsvollen technischen, funktionalen und gestalterischen Lösungen in die Zukunft führt. Dabei geht es natürlich um eine zeitgenössische Architektursprache des Umbaus, der auch einen emotionalen Mehrwert aus dem Bestand heraus entwickelt. Wenn Sie so wollen, geht es um die Vollendung der Moderne, die ja zweifellos an einigen Stellen Fragen offengelassen hat.

Inwieweit passt die Umbaukultur zu den aktuell drängenden Fragen des schnellen und v. a. kostengünstigen Wohnungsbauens?

R. N.: Die neue Umbaukultur ist die wichtigste Antwort auf diese Fragen! Aus- und Umbaupotenziale in integrierten Lagen auf der planungsrechtlichen Grundlage von § 34 BauGB ist mit Abstand der schnellste Weg, um zu neuem Wohnraum zu kommen. Und kostengünstig geht es v. a. im abgeschriebenen und mit Augenmaß umgebauten Bestand. Das betrifft einen Großteil von leerfallenden Büroflächen und kann zur Revitalisierung unserer Innenstädte beitragen. Deshalb müssen wir genau unterscheiden, dass neue Wohnungen nicht immer nur Neubauwohnungen sein müssen, sondern auch neu aus dem Bestand geschaffene Wohnungen sein können. Das sehen die Bauministerin und die Politik meines Wissens genauso.

Ist dann serielles Bauen, das oft als eine mögliche Lösung für günstigen Wohnbau gesehen wird, der richtige Weg?

R. N.: Alles, auch serielles Bauen kann helfen, den aktuellen Wohnungsbedarf abzubauen. Wie groß das Potenzial und die Ad-hoc-Machbarkeit sind, darüber wird seit Langem debattiert. Wir haben schon beim Ettersburger Gespräch 2016 mit dem Thema Masse – Serie – Baukultur. Lösungen für die Zukunft des Bauens das Potenzial und die Rahmenbedingungen des seriellen Bauens untersucht. Das Spektrum reichte von der Digitalisierung des Bauens, bei der die Automatisierung bei Vorliegen entsprechender Daten unabhängig von der Stückzahl ist, bis zur Vorfertigung möglichst typengenehmigter Bauten im Fertigteilwerk. Im Ergebnis hat das Ettersburger Gespräch 2016 mit den Teilnehmenden aus Planung, Bauwirtschaft und Wohnungswesen festgestellt, dass „… in der sich wiederholenden Serie eine Chance für schnelles und kostengünstiges Bauen liegt, wobei eine kontextuelle Planung und grundstücksbezogenes Bauen auch einen Wirtschaftsfaktor darstellen und unerlässlich sind. Innovation und Gestaltung spielen eine große Rolle, ebenso wie das ortsgebundene Einfügen, ohne das Baukultur nicht entstehen kann“. Also wie häufig in der Realität und bis heute anzutreffen: depends on – es hängt davon ab, auf welche konkreten und komplexen Rahmenbedingungen das serielle Bauen vor Ort trifft. Mir persönlich ist natürlich nicht egal, wie sich die Bauwerke einfügen und wie sie aussehen, und da sind auch die gut gemeinten und notwendigen Versuche von GDW und Bundesarchitektenkammer vor einigen Jahren nicht vollkommen überzeugend. Wenn Sie den Angebotskatalog durchblättern, ist wenig dabei, wo einem im Sinne von gut und schön das Herz aufgeht. Aber darum geht es doch: Der Wohnungsbau, den wir heute realisieren, muss – um nachhaltig zu sein – 100 Jahre und länger stehen. Die Gebäude werden die Lebensräume von mindestens drei Generationen prägen. Also kurz gesagt: Serielles Bauen braucht überzeugende Prototypen und eine kontextuelle städtebauliche Einbindung vor Ort, um einen Teilbeitrag leisten zu können.

In Potsdam, München oder Köln und anderswo gibt es gerade lebhafte Diskussionen gegen den Abriss von in die Jahre gekommenen, teils öffentlichen Gebäudekomplexen. Wird immer noch zu viel, zu schnell abgerissen?

Vieles hätte erhalten und um- oder ­aus­gebaut werden ­können

R. N.: Ja, ich denke schon. Genaue Zahlen liegen nicht vor, da Abriss in den Bundesländern nicht genehmigt und meistens auch nicht angezeigt werden muss. Wir haben aber mal hochgerechnet, dass in Deutschland etwa 22.800 Gebäude im Jahr und viele weitere Ingenieurbauwerke abgerissen bzw. rückgebaut werden. Tendenz steigend, wegen der jetzt in die Jahre gekommenen Bauten der Nachkriegsmoderne. Vieles hätte erhalten und um- oder ausgebaut werden können. Die vermeintlich schlechte Bausubstanz und die befürchteten höheren Kosten stehen häufig bei der Entscheidung der Eigentümer gegen den Erhalt, obwohl fachliche Erkenntnisse und Untersuchungen noch gar nicht vorliegen.

Brauchen wir dann ein Abrissmoratorium? Oder wie erreichen wir sonst ein gesellschaftliches Umdenken bis in die Amtsstuben und Investorenrunden hinein?

R. N.: Nein, ein Abrissmoratorium schießt über das Ziel hinaus. Es gibt Bausubstanz, die sich bei aller Liebe nicht mehr halten lässt, z. B. bei schadstoffbelastetem oder schadhaftem Beton. Wir sollten aber dazu übergehen, Abriss anzuzeigen und entsprechend zu begründen. Dann können Verwaltung und Bauherrschaft immer noch ins konstruktive Gespräch über Erhalt oder Wiederverwendung kommen. Das Umdenken findet gerade in hohem Tempo statt, weil Politik und Gesellschaft und insbesondere die betroffenen Planungsberufe die Potenziale des Planens und Bauens zur Lösung der Klima- und Ressourcenfragen erkennen. Der aktuelle Baukulturbericht 2022/23 Neue Umbaukultur, der ja in vielen Amtsstuben, wie Sie sagen, und Investorenkreisen gelesen wird, liefert dazu ebenfalls einen substanziellen Beitrag.

Helfen andere Betrachtungsrahmen? Wenn nicht mehr der Energieverbrauch des Gebäudebetriebs betrachtet wird, sondern die Gesamtenergie einschließlich der Herstellung der Baustoffe, der sogenannten grauen Energie?

R. N.: Ja, ausschlaggebend sind die klimaschädlichen Emissionen und indirekt die Gesamtenergiebilanz aufgrund des derzeitigen Energiemixes. Wenn wir also ein bestehendes Gebäude durch einen energieeffizienteren Ersatzneubau ersetzen, ist das für die CO2-Bilanz in den nächsten 30 Jahren schlechter als die Sanierung des Ursprungsgebäudes. Sogar eine Schlichtsanierung, bei der wir die (häufig nur scheinbar) hohen Effizienzwerte des Neubaus nicht erreichen, schneidet gegenüber dem Ersatzneubau besser ab. Wir zählen eben den Herstellungsaufwand für Baustoffe und die Emissionen durch den Transport bei den Energiestandardvergleichen nicht mit und rechnen die im Ursprungsgebäude enthaltene sogenannte graue Energie nicht gegen. Im Gegenteil, der Abriss wird gar nicht bilanziert. Wir haben das im Baukulturbericht mal durchgerechnet und landen schon bei einer Sanierung nach Energiehausstandard 85 bei nur zwei Fünftel des CO2-Fußabdrucks und der Hälfte der Kosten eines Neubaus mit Energiehausstandard 40 – und, wie gesagt, wurden die Emissionen für den möglichen Abriss, die graue Energie, hier noch gar nicht mitgerechnet. Ich finde, das sollte uns zu denken geben.

Sie sprechen auch von den immateriellen Werten, die bewahrt werden müssen, der goldenen Energie, wie Sie es nennen.

R. N.: Ja, jedes Gebäude hat eine Vorgeschichte, eine spezifische Funktion und gesellschaftliche Bedeutung. Das gilt in besonderer Weise für stadtbildprägende Bauwerke, aber eben auch für Alltagsarchitekturen. Das sind gemeinsame Geschichte, handwerk­liche Leistung und zeitgenössische Gestaltmerkmale. Diese „inneren Werte“ nennen wir goldene Energie, die es zu erkennen und zu nutzen gilt. Viele unscheinbare Gebäude blühen sogar in ihrer Nachnutzung erst richtig auf.

Wie viel Heimat, Gemeinsamkeit oder Identität steckt in dieser goldenen Energie?

Menschen haben einen Bezug zur ­gebauten Umwelt, der auf der gemein­samen Geschichte aufbaut

R. N.: Das lässt sich schwer beziffern, aber auf eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Jahr 2018 haben 78 % der Bevölkerung die Schließung alteingesessener Geschäfte als Gefahr für ihre Heimat gesehen. Das deckt sich mit unserer eigenen Umfrage zum aktuellen Baukulturbericht, bei der 82 % der Bürgerinnen und Bürger den Erhalt eines Gebäudes dem Abriss vorziehen würden. Das heißt, die meisten Menschen haben einen Bezug zur gebauten Umwelt, der auf der gemeinsamen Geschichte aufbaut.

Nochmal zum Betrachtungsrahmen. Brauchen wir ein Ziel, etwa ein CO2-Budget pro Quadratmeter Nutzfläche, durch das der Vorteil des Bestands, aber auch innovative, CO2-arme Neubaulösungen sichtbar werden?

R. N.: Ja, ein Wechsel zur Maßeinheit CO2-Emissionen statt Energie wäre wichtig. Auch die Budgetierung eines CO2-Kontingents je Grundstück oder Bauvorhaben, das auch den Abriss mit einbezieht, bei offenem Lösungsweg macht Sinn und fordert besonders das Ingenieurwesen und die Gestaltung heraus. Das würde im Ergebnis zu einem Innovationsschub bei Konstruktion und Baustoffen führen.

Wird dann Baukultur über die Ökobilanz definiert – form follows carbon?

R. N. [lacht]: Vielleicht nicht ganz so mechanisch, aber natürlich ist Baukultur auch Prozesskultur und Ergebnis einer guten Zusammenarbeit. Wenn im Ringen um eine gute Ökobilanz Konstruktionen effizienter und Materialien elementarer werden, nutzt das auch der Baukultur. Und selbstverständlich müssen wir Gebäude und Bauwerke künftig über den Lebenszyklus hinweg bilanzieren – und da punktet das baukulturell hochwertige und langlebige Bauwerk ohnehin besonders stark.

Was liegt Ihnen noch am Herzen in Sachen Baukulturbericht 2022/23?

R. N.: Neue Umbaukultur heißt auch eine spätere Umbaubarkeit mitzudenken. Also heute schon so bauen, dass späterer Umbau und Weiterbau durch trennbare Materialien gegeben sind. Ansonsten: Bitte lesen und wenn möglich in der künftigen Arbeit berücksichtigen! Der Bericht steht auf unserer Webseite oder mit dem untenstehenden Scancode als PDF zur Verfügung. Wir schicken den Baukulturbericht aber auch gern kostenfrei zu.

Ein Blick nach vorne: Worum geht es im nachfolgenden Baukulturbericht und wann erscheint dieser?

R. N.: Mit der Umbaukultur haben wir ein Thema aufgeworfen, das uns in der kommenden Dekade weiter beschäftigen wird. Es geht dabei um den anhaltenden Transformationsprozess unserer gebauten Lebensräume. Eine besondere Herausforderung wird dabei im Erhalt und Umbau unserer technischen, sozialen und kulturellen Infrastruktur liegen. Der kommende Baukulturbericht wird deshalb das Thema Infrastrukturen behandeln, vom Wasserbau über Räume der Mobilität bis zu Bauten für Bildung und Gesundheit. Die Aufrechterhaltung der Daseinsvorsorge und unser Gemeinwohl stehen dabei im Fokus – und der Beitrag, den Baukultur als maßgebliche Handlungsebene dazu leisten kann.


Reiner Nagel, geb. 1959, 1978–1985 Studium Architektur und Stadtplanung Leibniz Universität Hannover; 1986–1998 ­Senatsverwaltung Hamburg; 1998–2005 Mitglied Geschäftsleitung HafenCity Hamburg; 2005–2013 Abteilungsleiter Stadtentwicklung und Freiraumplanung Senatsverwaltung Berlin; seit 2013 Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur Potsdam

Hier geht’s, zum PDF des Baukulturberichts 2022/23 Neue Umbaukultur
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