Praxisleitfaden von Nicole Pfoster
Unsere Städte sollen einerseits auch deshalb dichter werden, damit mehr Naturraum erhalten bleibt; andererseits brauchen wir für das Stadtklima mehr Grün in der Stadt. Ein Widerspruch? Eine viel diskutierte Lösung ist mehr Grün in den Fassaden und auf den Dächern. Der Praxisleitfaden Grüne Fassaden lädt ein, diese oft noch brachliegenden Potenziale zu nutzen und Pflanzen als Entwurfsmittel zu entdecken. Denn mit Gebäudebegrünung gehen vielfältige Wirkungen einher: Verschattung des Gebäudes, Verminderung der Aufheizung im Sommer und gleichzeitig Kühlung durch Verdunstung. Begrünung mindert die Alterung der Dachhaut durch UV-Strahlung, hält Niederschlagswasser sowie Feinstaub zurück und vermindert die direkte Schallreflexion. Grüne Fassaden bilden immer ein Biotop und wirken sich damit positiv auf die Artenvielfalt aus, binden Kohlendioxid und produzieren Sauerstoff. Und schließlich haben grüne Gebäude auch eine psychologische Wirkung auf das subjektive Wohlbefinden der Menschen.
Historisch gesehen gab es immer wieder grüne Gebäude, doch galt Begrünung lange als randständig. Auch während der Hochzeit der Gartenstädte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb eine intensivere Verbindung zwischen Natur und Architektur, wie sie sich mit Fassadenbegrünung schaffen lässt, eher die Ausnahme. Vielleicht Friedensreich Hundertwasser mit seiner Baummieter-Aktion auf der Triennale in Venedig 1971 und, viel stärker im öffentlichen Bewusstsein verankert, mit seinen populären Bauten mit intensiver Dachbegrünung (z. B. Waldspirale in Darmstadt) hat zur wachsenden Popularität der Begrünung beigetragen. Auch genannt wird der Eigenbrötler Ot Hoffmann mit seinem experimentellen Baumhaus am Rande der Darmstädter Innenstadt. Inzwischen ist Gebäudebegrünung für klimaangepasstes und wassersensibles Bauen weitgehend anerkannt und das Thema findet sich immer mehr in Bauleitplanungen, Gestaltungssatzungen und Förderprogrammen wieder, worauf kurz eingegangen wird.
Nach der Ouvertüre geht es mit einer kleinen Wissenssammlung weiter, welche die Expertin für Fassadenbegrünung, Nicole Pfoser, mit einem Team zusammengestellt hat. Da geht es um Leistungsfaktoren zur Gebäude- und Umweltverbesserung, um Fassadengrün und Klimawandel, um die Kombination von Vegetation und Wasserressourcen, um die lokalen Ökosysteme und schließlich mit Ferdinand Ludwig um die Baubotanik. Nun kann es richtig losgehen mit der grünen Planung. Zuerst wird auf grüne Fassaden bei Entwurf und Gestaltung eingegangen. Besonders hilfreich sind hier neun Pflanztafeln zur System- und Pflanzenauswahl. Anschließend wird auf boden- und wandgebundene Fassadenbegrünung einschließlich entsprechender Konstruktionen, der Versorgung der Flora sowie des Brandschutzes kurz eingegangen. Abschließend folgen knappe Informationen zur Dachbegrünung.
Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens gold’ner Baum stellte schon Goethe im Faust fest und so geben realisierte Beispiele Inspiration und Anleitung für die Praxis: Das Staatsarchiv Basel-Landschaft hat einfache selbstklimmende Begrünung. Das City-Einrichtungshaus am Wiener Westbahnhof arbeitet hingegen mit regalartigen Ebenen und großen Pflanztrögen für Sträucher und Bäume – ein potenzieller Großstadtdschungel. Ein Gebäude in Freiburg kommt mit bodengebundenem Bewuchs und Edelstahlseilen als Wuchsaufleitung deutlich bescheidener daher. Ein Wohnturm in Wabern hat Immergrünes Geißblatt, Wilden Wein sowie weiß-rosa blühenden Storchschnabel in die umlaufenden Balkone integriert. Ein Bürogebäude in Stuttgart möchte mit Baumbepflanzung auf dem Dach sowie in den Fassaden mit Pflanztrögen für überhängende und kletternde Pflanzen punkten. Und ein Bürogebäude in Stavanger hat eine grüne Box im Obergeschoss, die mit substratgefüllten Pflanzsäckchen in einem aufwendigen System umhüllt ist. Ob ein solcher Aufwand jenseits der Optik einen fassbaren Mehrwehrt bietet, scheint offen.
Das Buch Grüne Fassaden ist im Dreiklang aus Wissen, Planen und Umsetzen ein schöner, ein praktischer Leitfaden für den Einstieg in grün-lebendige Architektur an der Gebäudehülle.
Grüne Fassaden
Nicole Pfoser
München: Detail Verlag (2023)
120 S., Hardver, 54,90 Euro