Brandenburgs Alhambra

Ein Lehmbauensemble als Prototyp für klimaschonende, dauerhafte und lebensfreundliche Massivlehmbautechnologie und zukunftsweisende Baukultur

Anlass für das Projekt Brandenburgs Alhambra ist die bei Nebelin mit Rast- und Tankanlage geplante Autobahn A 14. Schon in wenigen Jahren soll sie das Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe-Brandenburg durchschneiden. Lehmwände sollen als „hochgeklappte“ Naturschutzfläche Menschen und Landschaft schützen und Raum für eine Raststätte schaffen, die das Potenzial des Baustoffs für den Hochbau zeigt.

1 Naturschutzfläche „hochklappen“

Ein vom Zentrum für Peripherie initiiertes interdisziplinäres Forschungsprojekt ging von der Situation vor Ort aus, um Lehmbau als verfügbares natur- und klimafreundliches Material sichtbar zu machen. Dies geschah in einer Situation, in der die zunehmende Naturzerstörung und der Klimawandel ins allgemeine BewusstsFein rückt. In einem drei Jahre dauernden Prozess hat ein Forschungsteam eine ganze Anzahl von Innovationen entwickelt. Ein Schwerpunkt der Arbeit des Forschungsteams lag darin, die Druckfestigkeit von Wellerlehm zu erhöhen, sodass die alte Bautechnik zeitgemäßen und nutzungsspezifischen Ansprüchen entspricht. Wellerlehm bindet mit seinem hohen Strohanteil Kohlenstoff. Mit einer geplanten Länge von etwa 4,2 km würde das aus dem Bodenaushub des Autobahnbaus zu realisierende Projekt zum größten zeitgenössischen Lehmbauensemble Europas und zum Vorreiter einer ressourcenschonenden Bauwende.

Kooperationspartner des Projekts sind u. a. die Bundesstiftung Baukultur, die Bundesanstalt für Straßenwesen, das Biosphärenreservat und die Bundesanstalt für Materialforschung und -­prüfung. Seine Lage am Biosphärenreservat und an der Autobahn sichert die langfristige Begleitung als Forschungs- und Monitoringaufgabe des Biosphärenreservats Flusslandschaft Elbe-Brandenburg und der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Ziel ist es, das Wissen über diese Bautechnik erfahrbar zu machen und das Fachwissen über ihre Anwendbarkeit, Weiterentwicklung und ökologische Wirkung zu erweitern.

Das Vorhaben begann damit, einen Konflikt als Herausforderung zu begreifen. 2019 hatte der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) dem Bau der Autobahn A 14 zwischen Karstädt und Wittenberge zugestimmt. Damit war sicher, dass die Ruhe und Schönheit der Dörfer und der Landschaft stark beeinträchtigt wird. In der Höhe des Dorfs Nebelin kam hinzu, dass von der Landwirtschaft neben den Flächen, die direkt für den Fahrbahnbau verwendet werden sollen, weitere Flächen für eine Tank- und Rastanlage und zum Ausgleich für die Versiegelung zusätzlich Wiesen und Äcker dem Naturschutz zur Verfügung gestellt werden müssen. Das bedeutet für die örtlichen Landwirte einen herben Verlust, da die betroffenen Flächen fruchtbare Böden mit höherem Lehmgehalt sind, die im trockenen Brandenburg auch in Dürrejahren gute Ernten ermöglichen.

Das führte zu der Idee, den Naturschutz platzsparend „hochkant“ zu denken und aus dem Boden Lehmlärmschutzwände zu errichten, die in 50, 100 oder 200 Jahren, wenn kein Bedarf mehr besteht, dem Boden wieder rückgeführt werden können (Bild 2).

2 Wieso „Alhambra“?

Der Projekttitel wurde in Anlehnung an die bis zu 20 m hohe Stampflehm-Umfassungsmauer der Alhambra in Granada, Spanien, als Metapher für Dauerhaftigkeit und Baukultur gewählt (Bild 3). Brandenburgs Alhambra ist eine von einem Forschungsteam zusammen mit Menschen aus der Region entwickelte Anlage aus nachhaltigem Lärmschutz und Raststätte an der Autobahn A 14 bei Nebelin. Sie ist als Bauwerk konzipiert, das Menschen, Landschaft und Natur schützt und innovative und ökonomische Verfahrenstechnik mit zeitgemäßer Formensprache verbindet.

3 Stampflehm

Stampflehm besteht aus einer Mischung von Lehm und Schotter. Wie der Name andeutet, wird die Stampflehmmasse in Verschalungen durch Stampfen verdichtet (heutzutage pneumatisch). Dadurch erhält das Material eine hohe Festigkeit. Die Oberflächenerosion wird durch den darin enthaltenen Schotter begrenzt.

Dass sich mit Lehm zeitgemäß bauen lässt, geht u. a. auf Martin Rauch zurück, der gezeigt hat, dass sich selbst Großprojekte mit Stampflehm errichten lassen. Martin Rauch hat für den Architekten Herzog de Meuron das Ricolawerk in Lauffen, Schweiz, und für haascookzemmrich Studio2050 den Alnatura Campus Darmstadt mit massiven, selbsttragenden, 11 bzw. 12 m hohen Stampflehmwänden gebaut (Bilder 4, 5). Stampflehm enthält neben Lehm zu ca. 60 % Schotter. Lehmhaltige Böden in Alpennähe enthalten diesen; in anderen Regionen muss Schotter hinzugefügt werden. Die Fassade des Alnatura Campus wurde aus Aushub der Baustelle des Bahnhofs Stuttgart 21 errichtet.

4 Wellerlehm

In Westfrankreich, England und im flacheren Ostdeutschland wurde bis vor rd. 100 Jahren Wellerlehm als Baustoff genutzt. Hier, wo der Boden wenig oder keinen Schotter enthielt, wurde Boden direkt von vor Ort benutzt. Als Armierung wurde Stroh, aber auch Heidekraut oder andere Pflanzenfasern von 20 bis 40 cm Länge verwendet (Bild 6). Zahlreiche über 200 Jahre alte Häuser und Scheunen mit Wellerlehmwänden sind auch heute noch in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in Benutzung. Die relativ geringe Druckfestigkeit des traditionell gefertigten Wellerlehms wurde durch hohe Wandstärken ausgeglichen, sodass dennoch Giebelhöhen bis 11 m keine Seltenheit waren.

Durch die Einsparung energieintensiver und von weit her transportierter Materialien einerseits und die Bindung kohlenstoffhaltigen Materials andererseits hat Wellerlehm eine hervorragende Klimabilanz und ist vollständig wiederverwertbar oder ohne Entsorgungskosten „auf den Acker“ rückführbar. Wellerlehm birgt damit ein bisher ungenutztes Potenzial, Bauwerke nachhaltiger zu machen. Die Klimakrise und der Baustoffmangel machen ihn so wieder zeitgemäß.

Als „hochgeklappte“ Naturschutzfläche kann Lehmlärmschutz zudem nicht nur Menschen, sondern auch Landschaft und Tiere schützen.

Im Pilotversuch konnte gezeigt werden, dass maschinell/­hy­draulisch verdichteter Wellerlehm Druckfestigkeiten von 2,5 bis 5 ­N/mm² erreichen kann [1, S. 48]. Mit hoher Verdichtung einerseits und Mechanisierung und Automatisierung andererseits soll die traditionelle Wellerlehmbauweise für die zeitgemäße Architektur und Bautechnik zugänglich gemacht werden. Wellerlehm für großtechnische Anwendungen weiterzuentwickeln, kann angesichts der Rohstoff- und Klimaproblematik in manchen Bereichen das Bauen in Europa revolutionieren. Das Projekt soll dazu beitragen.

5 Entwicklung einer Wellerlehmpresse

Um Wellerlehmbau technologisch auf die Höhe der Zeit zu bringen, entwickelt das Forschungsteam gemeinsam mit regionalen Partnern eine Wellerlehmpresse zur Herstellung von Fertigbauelementen aus Wellerlehm.

Die Herstellung von vorgefertigten Elementen ist eine Innovation im Sinne der großtechnischen Anwendbarkeit und Produktivität. Durch die hohe Verdichtung und die damit um ein Mehrfaches höhere Druckfestigkeit, die geringere Verarbeitungsfeuchte, die erzielbaren logistischen Verbesserungen wie Trocknung, Zwischenlagerung, Transport, maschinelle Verbauung, Normierbarkeit usw. wird Wellerlehm zu einem modernen und vielseitig einsetzbaren Baumaterial.

Beim ersten Presstest im März 2021 wurde u. a. Lehm aus einem thüringischen Gebäude von 1711 wiederverwendet (Bild 7). Damit ist die volle Recyclingfähigkeit des Materials Wellerlehm ohne jegliche Abstriche erwiesen. Der Block erwies sich aufgrund seiner spezifischen Lehmzusammensetzung als noch druckfester als der vor Ort entnommene Nebeliner Lehm. Sowohl Wellerlehm als auch Stampflehm sind Baustoffe ohne synthetische Zusatzstoffe wie etwa Zement. Das ermöglicht deren völlig problemlose Entsorgung – u. U. direkt an Ort und Stelle durch Rückgabe in den Boden – oder ihre Wiederverwertung für neue Bauwerke.

6 Druckfestigkeit bei Baumaterialien

Mit dem üblicherweise verwendeten Beton schießt man in manchen Bereichen gewissermaßen mit Kanonen auf Spatzen. Mit entsprechenden Wandstärken können Konstruktionen aus – im Gegensatz zu Beton – voll recyclingfähigem Massivlehm (Wellerlehm oder Stampflehm) auch im mittel- und wenig stark belasteten Bereich genutzt werden und dort Beton ersetzen (Bild 8).

7 Lehm als Baustoff der Zukunft

Lehm, insbesondere Wellerlehm, hat ein bisher nicht genutztes Potenzial als Baustoff. Er vereint bestmöglich Ansprüche an ­Nutzungsqualität, Umweltfreundlichkeit, Nachhaltigkeit, Klima­relevanz, gutes Raumklima auch unter Temperaturextremen, Integration in die umgebende Natur und Stadtnatur sowie Lebensfreundlichkeit im umfassenden Sinn (Bild 9). Die lange Lebensdauer von Lehmbauwerken ist bisher in Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen nicht vorgesehen; der Vorteil der vollständigen Recyclingfähigkeit fließt ebenfalls kaum in Entscheidungen ein. Die Klimakrise macht deutlich: „Lehm ist Baustoff der Zukunft“ (Bundesstiftung Baukultur).

8 Nutzen natürlicher, sonst nicht verwendeter Materialien

Wellerlehm besteht zu etwa gleichen Volumenanteilen aus lehmhaltigem Boden und Pflanzenfasern. Stroh, Heidekraut oder andere silikathaltige Fasern übernehmen dabei die Funktion einer Armierung. Der Lehmanteil ist bindendes und tragendes Füllmaterial. Die Ansprüche an den Lehm sind relativ gering, sodass in weiten Teilen der Welt lokaler oder regionaler Bodenaushub genutzt werden kann. Dieser ist derzeit bei Bauvorhaben als Abfall klassifiziert und muss kostspielig auf Deponien entsorgt werden.

Ein ähnliches Abfallproblem stellt sich bei der Mahd von Straßenbegleitgrün und Abmagerungsflächen dar. Ein Teil der Ausgleichsflächen in Deutschland ‒ auch in der Prignitz/Brandenburg ‒ besteht aus ungedüngten Wiesen, die nur einmal jährlich, spät gemäht werden dürfen (extensive Mahd). Ziel ist es, durch Abmagerung des Bodens die Artenvielfalt zu erhöhen. Zum Zeitpunkt der Mahd haben die Gräser und Wildblumen bereits geblüht, Samen ausgebildet und die Stängel sind größtenteils zäh und trocken. Das Schnittgut muss als hartes Heu von der Fläche entfernt werden. Aus landwirtschaftlicher Sicht ist es als Viehfutter oder zum Humusaufbau auf Feldern (Samenaustragung von Unkraut) wenig brauchbar. Hier bietet der sog. Wellerlehm eine doppelte Chance: Mit Wellerlehm können die beiden momentan nicht genutzten Stoffe natürlichen Ursprungs – Bodenaushub und bislang nicht nutzbares Pflanzenschnittgut – zu Komponenten eines ökonomischen Baustoffs werden und damit Stoffkreisläufe klimaschonend schließen.

9 Ökonomie und Wirtschaftskraft

Wellerlehm stellt geringe Ansprüche an die Qualität des Lehms. Versuche des Forschungsteams haben gezeigt, dass sich durch ein Zusammenspiel von Feuchte, Bindigkeit, Anteil von Stroh und Pressdruck eine Druckfestigkeit erzielen lässt, die Wellerlehm und damit den bei Baustellen anfallenden Bodenaushub für zeitgemäßen Hochbau nutzbar macht.

Nächster Schritt ist die Konstruktion und der Bau einer funktionsfähigen und logistisch optimierten Anlage zur Verdichtung von Wellerlehm. Prinzipiell sind verschiedene Varianten möglich. Angestrebt ist die Entwicklung eines fahrbaren Wellerlehm-Automaten, der Blöcke von 2 (bis 4) t Gewicht (z. B. 1,4 x 1 x 0,8 m³) produziert. Es ist das Ziel, mehrere Elemente pro Stunde produzieren zu können, die – direkt verbaut – bereits an Ort und Stelle durchtrocknen. Eine Alternative stellen Anlagen dar, die in Feldfabriken oder an festen Produktionsorten in großem Umfang Bauteile vorproduzieren, die aufgrund ihrer Größe und ihres Gewichts gerade noch transportierbar sind.

10 Betonsparende Fundamente

In der Studie wurden Varianten von Gründungen auf dem Weg hin zu optimierten Fundamenten untersucht, die möglichst wenig Beton nutzen (Bild 10). Hier wird in der Folgeforschung angeknüpft.

11 Multifunktionalität und Prozessinnovation

„Es reicht längst nicht mehr aus, Räume oder Techniken konzeptionell eindimensional für singuläre Funktionen zu entwickeln. Multifunktionalität und Systemvernetzung stehen im Fokus aktueller Forschung und sind grundlegende Aufgaben im Ingenieurswesen. Dabei müssen funktionale und konstruktive Ideen ver­bunden sein mit ökologischen Aufgaben und ökonomischen Möglichkeiten.“ (Peter Köddermann, Baukultur NRW) [1]

Das Projekt Brandenburgs Alhambra ist als multifunktionales Ensemble konzipiert, das nationale Verkehrsinfrastruktur mit regionalen und lokalen Infrastrukturelementen verbindet und gleichzeitig Dienstleistungs-, Erholungs- und Schutzfunktion hat (Bild 11). Unter den regulatorischen und technischen Vorgaben integriert sich der Bau in die natürliche Umgebung und verwendet für die Hochbauten weitgehend Rohmaterial von vor Ort, das darüber hinaus energiesparend verarbeitet wird und vollständig recycelbar ist.

Die Lehmwände fügen sich durch Material und Form in die Landschaft ein. Als öffentlicher, funktionaler Ort gehen urbaner und ländlicher Raum eine Beziehung ein. Es entsteht ein Berührungspunkt, ähnlich einem sog. Wurmloch aus der Relativitätstheorie, wo durch die Krümmung der Raumzeit zwei völlig unterschiedliche Orte im Universum miteinander verbunden sind.

Alle Innovationen dieses Projekts sind auf den künstlerisch begleiteten Prozess und die Expertise der eingebundenen Fachdisziplinen zurückzuführen. Die ganz spezifische Methode, künstlerische Arbeit einzusetzen, bereitet das günstige Umfeld. Die Methode beinhaltet u. a., die Diskrepanz zwischen Weltanschauung und Welt zu erkunden. In der Praxis bedeutet dies, jenseits von vorgefassten Vorstellungen Ideen und Intuitionen zu folgen, Widersprüche zu integrieren, unterschiedliche Perspektiven zusammenzufügen, weiterzuentwickeln und die Gesamtheit im Blick zu behalten. Nicht zuletzt bedeutet es, sich Ideen und ihren Umsetzungen in einem Prozess mit Rückkopplungsschleifen zu nähern. Diese werden so lange fortgesetzt, bis optimale Lösungen gefunden, umgesetzt, ggf. weiter angepasst sind. Diese Methode ist für herausfordernde Aufgabenstellungen und Neuentwicklungen geeignet.

Die grundlegenden Erkenntnisse werden in Präsenz und im Dialog entwickelt. Alle relevanten Fachgebiete im Projekt sind sowohl durch Theoretiker:innen als auch durch Praktiker:innen vertreten. Erfahrungswissen (Praktiker) und Theorie (der Fachgebiete) ergänzen sich. Dies führt zum parallelen Durchdenken komplexer Parameter innerhalb kurzer Zeit (Bild 22).

Sorgfältige Dokumentation gewährleistet, dass alle Beobachtungen und Ideen präsent bleiben. Bis hin zum getesteten Ergebnis sind Ideengeber:innen und Forschungsteam beteiligt. Das führt zu großer fachlicher Motivation. Das Verschränken der unterschiedlichen Disziplinen hin zu einem gemeinsamen Ziel bewirkt eine hohe Qualität von Konzeption und Ausführung.

12 Beispiel für Interdisziplinarität – Formgebung einer Lehmlärmschutzwand

Die maßgebende statische Beanspruchung der Lehmlärmschutzwand erfolgt aufgrund von Wind. Bedingt durch die Wandgeometrie kommt es hierbei zu erhöhter, horizontal wirkender Druck- und Sogwirkung in den Randbereichen der Konstruktion. Mittels geometrischer Anpassungen z. B. durch Stufungen der Höhe der Wand lässt sich die Beanspruchung in diesen Bereichen reduzieren, sodass eine über die Länge gleichmäßige Horizontalbelastung der Wandkonstruktion ermöglicht werden kann.

Im in Bild 12 gezeigten Beispiel folgt die Form an den Enden einer Lärmschutzwand aus Lehm den statischen Vorgaben hinsichtlich der erforderlichen Dicken der Wand und deren möglicher Reduktion durch eine Faltung/Zickzackform. Diese leitet die in diesen Bereichen höhere Beanspruchung durch Wind ab. Zugleich schafft die Form für die Besiedlung günstige diverse Mikroklimata. Die Form bewirkt darüber hinaus einen gegliederten Raum, der ästhetisch anspricht.

13 Funktion als Ausgleichsmaßnahme

Die Anrechnung einer Lehmwand im Kontext der Eingriffsregelung erfordert, dass das ökologisch wertvolle Angebot der Lärmschutzwand mit dem Verlust von Werten und Funktionen im betroffenen Gebiet einhergeht, wozu eben auch das Landschaftsbild gehört. Denkbar ist die vom Vorhaben initiierte Beseitigung oder Beeinträchtigung und Entwertung von natürlich (z. B. Abbruchkanten, Steilufer am Fluss) oder vom Menschen geschaffenen (vergleichbare Strukturen in Lehm- und Kiesgruben, Hohlwege) vergleichbaren Biotopen, deren Funktionen zumindest teilweise ersetzt werden können.

Im Projekt entscheidend sind zahlreiche Doppelfunktionen. Ein großer Teil der im Raststättenbereich vorgesehenen Grünfläche ist in den auch als Ausgleichsmaßnahme geltenden Bereich verlagert. Herkömmlicherweise sind ökologische Ausgleichsflächen getrennt von Infrastrukturbauten angelegt, um möglichst natürliche Bedingungen zu schaffen. Die Grünflächen des Raststättengeländes übernehmen als Obstgarten und Blühstreifen gleichzeitig Funktionen als Futterpflanzen für Insekten und als Erholungsort für Besucher:innen, Erosionsbremsen die Funktion von Nisthilfen für Wildbienen.

14 Bienensteine – Insektenhotels als Erosionsbremsen

Mit vor Erosion schützenden Elementen für Stampflehm kann dieser im ökologischen Sinn funktional erweitert werden. Schwach gebrannte, seitlich gelochte Tonplatten bieten nicht selbst­grabenden Insekten, insbesondere verschiedenen Wildbienen­arten Brutplätze (Bilder 14, 15). Diese sind in der durch Menschen geprägten Agrarlandschaft rar geworden, was sich auf die Populationen dieser ökologisch wichtigen Insekten negativ auswirkt.

14.1 Wellerlehm, Bienenlehm und Schilfeinlagen für Brutplätze von Wildbienen

Von den in Deutschland lebenden weit über 500 Wildbienenarten kommen rd. 380 in Brandenburg vor, und etwa die Hälfte davon gilt als gefährdet [2]. Der Großteil der Wildbienen nistet endogäisch (im Boden) und legt Hohlräume unter- und/oder oberirdisch an. Manche Bienenarten besiedeln vorzugsweise Steilwände und bauen ihre Brutzellen selbstständig grabend in vertikales lehmiges Substrat (Steilwände, Abbruchkanten). Die vorhandenen Bruthöhlen werden in Folgejahren auch von anderen Insektenarten nachgenutzt.

Um selbstgrabenden Wildbienen Brutplatz in den Lehmlärmschutzwänden als künstliche Steilwände anzubieten, werden an geeigneten Stellen Elemente aus nur schwach verdichtetem Naturlehm in die Wand eingebaut. Da der einzige Zweck dieser Einbauelemente ökologischer Natur ist, werden sie vom Projektforschungsteam als Bienenlehm bezeichnet (Bild 15).

15 Einkalkulierte Erosion

Sowohl Wellerlehm als auch Stampflehm wittern anfänglich oberflächlich ab. Dadurch treten bei Wellerlehm die Pflanzenfasern zutage und wirken zunehmend als Erosionsschutz. Desgleichen wird bei Stampflehm oberflächlich der Lehm ausgewaschen; das zutage tretende, steinige Material verhindert die weitere Erosion (Bild 16).

Die Abwitterung beläuft sich erfahrungsgemäß in 100 Jahren auf etwa 2–4 cm bei Stampflehm und 3–5 cm bei traditionellem Wellerlehmbau. Beim neu entwickelten, maschinell hochverdichteten Wellerlehm wird eine dem Stampflehm vergleichbare Abwitterung geschätzt. Daher wird im gegenwärtigen Projekt bereits in der Entwurfs- und Bauphase ein Abwitterungszusatz von 4 cm Wandstärke auf der Witterung ausgesetzten Wandflächen hinzugefügt.

Das spezielle Herstellungsverfahren, insbesondere das Abstechen der Oberflächen beim bäuerlichen bzw. das Sägen beim vom Projektteam weiterentwickelten Verfahren am Ende des Prozesses führt dazu, dass die Struktur der Lehmmasse mit abgeschnittenen Strohanteilen mit einer leichten Neigung nach unten gerichtet wird. Dies bewirkt u. a. eine erhöhte Resistenz in Bezug auf Materialabtrag. Es entsteht an Welleroberflächen ein kurzfristiger Abtrag von ca. 5 mm. Das Stroh an der Oberfläche tritt dann etwas hervor (Bilder 6, 21). Danach stellt sich ein gewisses Gleichgewicht ein. Die weitere Erosion schreitet nur sehr langsam voran.

15.1 Aussparungen für Fledermäuse

Bedrohte Fledermausarten können durch gezielte Maßnahmen an der Wellerlehmlärmschutzwand außen um die Raststätte in ihrem Bestand gefördert werden. Das Anbringen einfacher Nisthilfen im die Rastanlage umschließenden Bereich ermöglicht dies.

Nach Einschätzung des Naturschutzgutachters Andreas Hagenguth kann bei folgenden, in der Umgebung bereits kartierten und mit einer Ausnahme allesamt bedrohten Fledermausarten von einer potenziellen Besiedlung ausgegangen werden: Zwergfledermaus, Breitflügelfledermaus, Mopsfledermaus, Graues Langohr, Braunes Langohr, Abendsegler. Bei einer potenziellen Ansiedlung ist zu beachten, dass eine Integration von Nistkästen oder -strukturen in die Lehmlärmschutzwand nur an geeigneten Stellen der Mauer (geringste Kollisionsgefahr, wenig Lärm und Licht) in Betracht gezogen wird.

Fledermäuse orientieren sich beim Flug überwiegend durch Ortungsrufe. Dazu nutzen sie Baureihen und Waldränder als Leitstruktur. Auch die im Projekt konzipierten langen Wände können eine solche Funktion übernehmen.

16 Akustische Wirkung

Lehmwände sind schallisolierend, massive Schwerlastwände aus Stampf- oder Wellerlehm sind praktisch schallundurchlässig (Bild 17). Allerdings reflektieren harte und ebene Oberflächen den Schall. Um die Absorptionsfähigkeit der Lehmschallschutzwand zu verbessern, wurden folgende Materialien betrachtet (Bild 18).

16.1 Hanfkalk

Hanfkalk (oder Hanfbeton, ein sog. Agrarbeton) ist ein Verbundwerkstoff aus Hanf-Leichtholz und Kalk als Bindemittel. Hanfkalk ist durch seinen hohen Leichtholzanteil ein kohlenstoffbindendes Material. Es hat durch seine Porösität (eingeschlossene Luftkammern) sehr gute Schallabsorptionseigenschaften. Diese variieren je nach Grad der Verdichtung.

16.2 Holzwolle/Magnesit

Dem Hanfkalk vom Prinzip und den Materialien sehr ähnlich ist Heraklith, dessen faseriger und hohlraumerzeugender Materialanteil aus Holzwolle besteht. Damit bindet auch Heraklith Kohlenstoff und weist eine günstige CO2-Bilanz auf.

16.3 Reet

Reet bzw. Schilfrohr ist ein Material, das durch seine Hohlräume die Absorptionsfähigkeit von Lehm stark erhöht. Es ist unter den organischen Materialien auch besonders dauerhaft und weist eine hohe Festigkeit auf, zudem besteht durch seine traditionelle Verwendung für Dächer sowohl Erfahrung mit dem Material als auch Verfügbarkeit. Bei in die Wellerlehmmasse eingearbeiteten Schilfhalmen (Reet) lassen sich über die Länge der Halme die Schallfrequenzen, die absorbiert werden, beeinflussen.

16.4 Natürliche Aufrauung

Sowohl Wellerlehm- als auch Stampflehmwände bekommen durch Oberflächenerosion im Laufe einiger Jahre stark texturierte Oberflächen. Inwiefern diese natürliche Aufrauung Schallreflexion durch Streuung reduziert, soll noch untersucht werden.

17 Beleuchtungskonzept

Die Prignitz ist eine der bei Nacht am wenigsten lichtverschmutzten Gegenden Deutschlands, und bei klarem Wetter ist hier ein prächtiger Sternenhimmel zu sehen. Künstliche Beleuchtung stellt eine Beeinträchtigung der artspezifischen Lebensweise von Insekten mit zum Teil gravierenden Auswirkungen dar. Dazu zählen v. a. Fallenwirkung, Auswirkungen auf Lebenszyklus und die Fortpflanzung.

Die Beleuchtung der Rastanlage sollte dem Rechnung tragen, sparsam mit warmweißer LED-Beleuchtung ausgestattet, um zu verhindern, dass Insekten angezogen werden, die ihrerseits die Fledermäuse zur Jagd anlocken. Sie soll Lkw-Fahrer:innen und Besucher:innen Orientierung und Sicherheit geben, ist dezent am Boden und der Architektur angebracht, sodass auch nachts die Weite der Landschaft spürbar bleibt.

Die 1 m breite Fläche oben auf den Lärmschutzwänden ist einfach und sicher für Photovoltaik nutzbar. Bei 4,2 km Wandlänge entstehen etwa 4200 m² für eine PV-Anlage nutzbare Fläche, um die Raststättenanlage mit Strom zu versorgen.

18 Das Raststättengebäude – Referenz für Wellerlehm-Hochbau

Die gegenüber traditionellem Wellerlehm erhöhte Druckfestigkeit und die erhebliche logistische Verbesserung durch zu Blöcken gepresste Bauelemente machen Wellerlehm im zeitgemäßen Hochbau einsetzbar. Mit dem Raststättengebäude soll seine besondere ästhetische Qualität deutlich werden (Bilder 19, 20).

19 Doppelnutzung für Natur und Mensch

Das Konzept für Brandenburgs Alhambra sieht u. a. als Aus­gleichs­vegetation als auch kulturlandschaftliche Elemente aufweist (Bild 1). So sollen neben Gebüsch- und Bauminseln von verschiedenen, in der Prignitz natürlich vorkommenden Gehölzarten Kräuter, Wildblumen und andere Blühpflanzen wachsen, renaturierte Lehmentnahmetümpel entstehen und Obstbäume verschiedener Arten gepflanzt werden.

Einerseits durch die Größe der Fläche, andererseits durch Verhaltensbeeinflussung mittels angelegter Pfade soll gewährleistet sein, dass der Naturbereich von den Besucher:innen als schöner Ort wertgeschätzt wird. Damit bietet die ökologisch wirksame Ausgleichsfläche den Besucher:innen der Raststätte Fläche für Erholung, Ruhe und Naturerlebnis.

Die Rastanlage sollte optional einen Seminar- und Tagungsbereich enthalten. Den Metropolen gegenüber stellt das einen Standortvorteil dar, weil man schnell hin- und wegkommt und konzentriert in inspirierender Umgebung tagen kann. Sie ist sowohl über die Autobahn als auch mit dem Fahrrad erreichbar. Von Nebeliner Seite ist die Raststätte fußläufig sowie über einen Fahrradweg angebunden, der die Raststätte an das Radwegenetz der Region und mit dem Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe verknüpft. Damit wäre auch eine Verbindung zu den Brandenburger Fernradwegen Tour Brandenburg und Elbradweg hergestellt.

Die Raststätte ist der Autobahn als Lade-, Tank- und Rastanlage unmittelbar angegliedert. Der regionale Bezug der Rastanlage und ihre Einbettung in die Landschaft werden beim Betreten bereits deutlich und brechen mit dem gängigen Bild der Autobahnraststätte als gewissermaßen „außerirdischem Ort“ (Reiner Nagel, Bundesstiftung Baukultur). Diese Metapher meint die Tatsache, dass Autobahnraststätten bislang von ihrer Umgebung abgeschottet und von außen unerreichbar sind, aber auch, dass man auf Autobahnrastplätzen von der Umgebung ausdrücklich abgetrennt ist. Im Konzept Brandenburgs Alhambra hingegen bietet die Raststätte für Fußgänger:innen, Radfahrer:innen sowie Besucher:innen aus der Umgebung Gastronomie und Einkaufsmöglichkeit, für die Reisenden öffnet sich der Blick in die Landschaft und es besteht die Möglichkeit einer ruhigen Naturerfahrung auf Gras und unter Bäumen.

Ein Teil der geplanten Lehmlärmschutzwand liegt sowohl im Landschaftsschutzgebiet (LSG) Agrarlandschaft Prignitz-Stepenitz als auch im gleichnamigen Vogelschutzgebiet. Die landschaftliche Einbindung ist daher ein wichtiger zu berücksichtigender Faktor – als Einfügung durch Material und Form in das Landschaftsbild der Prignitz wie auch ökologisch durch Maßnahmen, von denen einige hier aufgeführt sind.

20 Vision für den öffentlichen Raum

Die aus dem Projekt entstandene Vision für den Hochbau sind öffentliche Plätze, an denen Wildbienen summen, wo man Geräuschen von Vögeln und Menschen sowie Lachen, Leben lauschen kann, weil sie von Gebäuden aus hoch absorbierendem Wellerlehm umgeben sind und blühende Pflanzen Straßen und Bürgersteige säumen.

21 UN-Nachhaltigkeitsziele

Das Lärmschutz-Bauensemble zeigt, wie unter Verfolgung der Nachhaltigkeitsziele ein großes Infrastrukturprojekt (Bau der A 14) in einer vielseitigen, sowohl durch naturnahe Strukturen als auch durch Landwirtschaft geprägten Landschaft begleitet und die beeinträchtigenden Auswirkungen reduziert werden können. Dies wird in Anlehnung an die 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals – SDGs) deutlich, zu denen sich die Bundesregierung bekannt hat:

  • SDG-Ziel 9 – Die Entwicklung und der Bau einer Lehmlärmschutzwand stärkt die regionale wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die lokale Fachkompetenz im Lehmbau. Die Innovationsfähigkeit von kleinen und mittleren Unternehmen wird durch die Kooperation mit wissenschaftlichen Einrichtungen aktiviert.
  • SDG-Ziel 12 – Die Lärmschutzwand verwendet regionale, natürliche und unbegrenzt wiederverwendbare Baustoffe mit vorteilhafter CO2-Bilanz.
  • SDG-Ziel 15 – Die Lehmlärmschutzwand bietet Wildbienen, weiteren Insekten und anderen geschützten Tierarten Brutplätze. 
  • SDG-Ziel 17 – Der Bau der Lehmlärmschutzwand steht für generationsübergreifendes Miteinander zum Wohle der Region, wie u. a. die Mitwirkung der Kitas und Schulen aus Karstädt und Wittenberge.

22 Fazit

Das Lehmbauensemble Brandenburgs Alhambra hat zum Ziel, maßgeblich dazu beizutragen, gegenwärtige Maßstäbe für Ausgleichsmaßnahmen unter wissenschaftlicher Begleitung neu zu setzen, als Leuchtturmprojekt der zeitgenössischen Baukultur einem zukunftsfähigen Baustoff zum Durchbruch zu verhelfen und als neuer wirtschaftlicher Motor Impulse für die Region Prignitz zu geben [3].


Literatur

  1. Reeh, U. et al. (2022) Entwicklung eines Konzepts zur ressourcen- und naturschutzgerechten Konstruktion von Lehmlärmschutz (Studie) [online]. Nebelin: Zentrum für Peripherie. https://zentrum-fuer-peripherie.org/wp-content/uploads/MBKS-11-LQ.pdf
  2. Deutsche Wildtier Stiftung (2016) Wildbienen. Wichtige Bestäuber für eine Vielzahl an Pflanzen [online]. Hamburg: Deutsche Wildtier Stiftung. https://www.deutschewildtierstiftung.de/wildtiere/wildbienen
  3. Zentrum für Peripherie [Hrsg.] (2022) Brandenburgs Alhambra (Flyer) [online]. Nebelin: Zentrum für Peripherie. https://zentrum-fuer-peripherie.org/wp-content/uploads/Flyer-­Brandenburgs-Alhambra-V3-online-DE.pdf

Forschungsteam und Projektpartner
(in alphabetischer Reihenfolge)

Michael Chudalla, Dr. Fabio Strigari – Bundesanstalt für Straßenwesen (Akustische Messungen)

M. Sc. Max Dombrowski (Analyse und Beratung Fundamente)

Dr. Heike Ellner – Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe-Brandenburg (Monitoring)

M. Sc. Anika Kristin Gathof – Institut für Ökologie, TU Berlin (Lebensraum Wildbienen)

Dr. Dieter Günnewig – Bosch & Partner GmbH (Bewertung als ökologische Ausgleichsmaßnahme)

Dipl.-Ing. Arch. BDA Martin Haas – haas cook zemmrich STUDIO2050 (Planung)

Christian Hansel – Lehmbau Lovis UG (Wellerlehmbau)

Dr. Birgit Kocher, Dirk Heuzeroth – Bundesanstalt für Straßenwesen (Wiederverwertung ausgebauter Böden)

Prof. Heiner Lippe – TH Lübeck (bis 2021 Tests und Analysen)

Dr.-Ing. Jan Mittelstädt – Knippers Helbig GmbH (Tragwerksbau, Statik und Fundamente)

Dr. Sören Müller – Forschungszentrum Strangpressen, TU Berlin (Maschinenbau)

Martin Rauch – Lehm Ton Erde Baukunst GmbH, Schlins (Ö) (Stampflehmbau und Technologie)

Ute Reeh – Zentrum für Peripherie (Forschungsprozess und Gestaltung)

Dr. Julia von Werder, Philip Wiehle – Bundesanstalt für Materialforschung und Prüfung (Tests und Analysen)


Autorin

Ute Reeh, ur2@ute-reeh.de
Zentrum für Peripherie, Düsseldorf und Nebelin
https://zentrum-fuer-peripherie.org
http://ute-reeh.de

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