Wege zum CO₂-neutralen Tragwerk

Weichenstellungen im Entwurf

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Der CO2-bedingte Klimawandel stellt die Menschheit vor eine der größten Herausforderungen. Das Bauwesen gehört dabei zu den maßgebenden Emittenten klimaschädlicher Gase. Ein Um- bzw. Weiterdenken bei Gebäudeplanung und Bauausführung ist dringend notwendig. Innerhalb unserer Bauwerke spielen die Tragstrukturen aufgrund der verwendeten Baustoffe und der hohen Massenanteile eine entscheidende Rolle. Wir Bauingenieure sind hier als Berater und Planer besonders gefordert. Der Beitrag wird einen Abriss über Entwurfsgrundsätze geben, mit denen Tragwerke mit deutlich reduzierter CO2-Bilanz geplant werden können. Das Ziel wäre dabei die CO2-neutrale Tragstruktur.

Motivation

Jeder Sektor ist angehalten, seinen Beitrag zur Minimierung der Treibhausgasemissionen zu leisten. Auf den Bausektor entfallen ca. 35–40 % der globalen Emissionen von Treibhausgasen. Die Hälfte hiervon sind vorgelagerte Emissionen aus der Produkt- und Bauphase, davon wiederum entfallen bis zu 50 % auf das Tragwerk. Daraus ergibt sich für uns eine große Verantwortung und gleichzeitig eine große Chance, die zur Verfügung stehenden Stellschrauben optimal an das Bauvorhaben anzupassen. Die richtige Kombination aus materialgerechter Planung, guter Mischung aus reduziertem Tragwerk und Flexibilität sowie dem Einsatz von Materialien mit reduzierten GWP-Werten (Global Warming Potential) ermöglicht eine Minimierung grauer Emissionen. Schon heute können die Sollwerte, die ab 2040 gelten, erreicht werden bzw. kann bereits heute CO2-neutral gebaut werden.

Wie sind die Ziele erreichbar

Im MVD-Arbeitskreis Nachhaltige Tragwerke wurden die zahlreichen Aspekte des nachhaltigen Bauens betrachtet und analysiert. Um Bauherren und Architekten schon in den frühen Planungsphasen zu beraten und die Weichen in Richtung Nachhaltigkeit zu stellen, wurde die Vielfalt der Möglichkeiten auf das Wesentliche reduziert.Folgende Stellschrauben sind relativ unkompliziert anwendbar, haben aber eine recht effektive Wirkung:

  • Erhalt vor Neubau
  • Bei Neubau:
    • flexible Tragstrukturen für eine lange NutzungsdauerEinsatz von Holz (wo sinnhaft)materialgerecht bauenOptimierung im Stahlbetonbau (speziell in den flächigen Bauteilen)Einsatz von Betonen und Stählen mit reduziertem CO2-Ausstoß
  • Erhalt vor Neubau

Die effizienteste Stellschraube ist, nicht neu zu bauen, sondern das gebaute Potenzial zu nutzen. Als Entscheidungsgrundlage sind hierfür detaillierte Bestandsanalysen der Tragstruktur im Vorfeld der eigentlichen Planung enorm wichtig. Der Sanierungsbedarf muss festgestellt und bewertet werden, das Tragwerk ist in Bezug auf Traglasten, Brandschutz und Erdbebensicherheit zu analysieren. Die Struktur ist auf Flexibilität und Umbaumöglichkeiten zu prüfen, heißt, in welchem Rahmen sind Eingriffe möglich und sinnhaft. So haben speziell vormals industriell genutzte Hochbaustrukturen ein robustes Tragwerk mit ausreichend Lastreserven für Umnutzungen und Aufstockungen. Auch alte Industriehallen bieten viel Potenzial für neue Nachnutzungen, meist muss nur die Hülle revitalisiert oder erneuert werden (Bild 1).Der Großteil unserer bautechnischen Bestimmungen ist auf Neubauten ausgelegt und für das Bauen im Bestand nur bedingt geeignet. Um die heutigen Anforderungen an den Brandschutz, die Erdbebensicherheit und die Energieeffizienz im Bestand zu erfüllen, sind bei Bestandsbauten meist aufwendige Baumaßnahmen erforderlich. Der Abbruch und Neubau ist daher in wirtschaftlicher Hinsicht oftmals die günstigere Wahl. Mit spezifischen bautechnischen Regelungen für Bestandsgebäude könnte wesentlich mehr an Bausubstanz erhalten werden.

Bild 1 Transparenz auf 24 Seiten: Die gesamte EPD für Sita Polyurethan Bauteile ist auf der Sita Website einsehbar
Quelle: Roland Halbe

Einsatz von Holz

Durch die Speicherung von CO2 ist Holz der ideale Baustoff auf dem Weg zum CO2-neutralen Tragwerk. Voraussetzung dafür sind eine nachhaltige Forstwirtschaft und die lokale Verfügbarkeit. Dabei ist das Label Holz von Hier beispielhaft. Hier können klimafreundlich hergestellte, nachhaltige Produkte aus Holz ausfindig gemacht werden, die in einem beschränkten Umkreis zum Bauvorhaben gewachsen sind und auch regional produziert wurden.Holz bzw. Holzwerkstoffe sollten im Geschossbau zielgerichtet und nicht verschwenderisch eingesetzt werden, denn die Verfügbarkeit ist begrenzt und wir können, auch zukünftig, nicht alles in Holz bauen.Zudem sollten die Konstruktionen holzbaugerecht in Bezug auf die Grundrissgestaltung und TGA-Trassenführung sein, v. a. mit moderaten Spannweiten, um bauphysikalische Problemstellungen wie Schwingungsanforderungen und Schallschutz effizient umsetzen zu können. Holzdecken kommen üblicherweise nicht ohne ­Linienlagerung aus, damit ergeben sich im Vergleich zum Massivbau deutlich mehr Unterzüge bzw. tragende Wände.

Hier gilt es bereits in der Vorplanung mit Objektplanung und TGA-Planung ein ganzheitliches Konzept zu entwickeln, das Achsraster, Deckensystem sowie vertikale und horizontale Erschließung der TGA möglichst optimal kombiniert (Bild 2). Eine Dezentralisierung der TGA, also die Aufteilung auf mehrere gut verteilte Schächte im Grundriss zur Minimierung der Trassenpakete ist für den Holzbau vorteilhaft. So kann die Höhe der Lüftungskanäle bzw. ELT-Trassen niedrig gehalten und unter den Holzunterzügen durchgeführt werden.Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Brandschutz. Je nach Gebäudeklasse und Brandschutzanforderungen sollten mit dem Brandschutzsachverständigen frühzeitig Kompensationsmaßnahmen, wie Brandmeldeanlage oder Sprinklerung, diskutiert werden. Eine komplette Kapselung der Holzkonstruktion ist aus Sicht der CO2-Reduktion kontraproduktiv.

Bild 2 Animation Betreuungsgebäude Greutschule Aalen
Quelle: MVD

Materialgerecht bauen

Jedes Material hat seine Stärken und Schwächen und im Idealfall sollte jedes Material so eingesetzt werden, dass es seine Stärken bestmöglich in die Tragstruktur einbringt. Hier einige Beispiele.Aussteifende Kerne bei größeren Gebäudeabmessungen sind in Stahlbetonbauweise vorteilhaft, da hier wegen der höheren Steifigkeiten weniger Kerne erforderlich werden als in Holzbauweise. Zudem erfordern die Bauvorschriften für Fluchttreppenhäuser und Aufzugsschächte nichtbrennbare Materialien, was mindestens eine Kapselung des Holzbaus erforderlich macht. Durch diese Kapselung mit nichtbrennbarer Beplankung wird die CO2-Bilanz des Holzbaus deutlich getrübt.Bei reinen Holzbauten sind durch die relativ weiche Scheibenwirkung der Decken mehr aussteifende Wände erforderlich. Wenn dies stört, wäre eine Holz-Beton-Hybriddecke geeigneter. Bei Bauten in den Erdbebenzonen II und III erweist sich eine Hybriddecke mit dem Aufbeton als aussteifende Scheibe oftmals als die geeignetere Bauweise. Felder von Holzdecken sollten einen möglichst rechteckigen Grundriss aufweisen. Um wirtschaftlich zu bauen, sollten Spannweiten von Holz- bzw. Holzhybriddecken und -trägern im Geschossbau auf ca. 8,00 m begrenzt werden – wobei bei reinen Holzdecken eher noch etwas kürzere Spannweiten vorteilhaft sind.

Optimierungen im Stahlbetonbau

Die Minimierung des Betonverbrauchs bei Stahlbetonkonstruktionen kann durch den Einsatz von Konstruktionen mit geringeren Betonmassen (Rippendecken, Hohlkörperdecken, Rippenwände, vorgespannte Konstruktionen, …) erreicht werden. Grundsätzlich ist hier eine frühzeitige Abwägung aller Projektrandbedingungen wichtig, da z. B. der Einsatz einachsig spannender Deckensysteme, wie Rippendecken im Geschossbau, eine sehr disziplinierte Planung der TGA erfordert.Bei Stahlbetonkonstruktionen kann eine geringere Mindestbewehrung durch genauere Berechnungen erreicht werden. So werden durch Schwinden stärker zwangsbeanspruchte Bereiche höher bewehrt als andere Bereiche, es wird aber kein voller Zwang über alle Flächenbauteile angesetzt (Bild 3).

Eine weitere effiziente Stellschraube ist die Gründungsoptimierung (Trägerrost statt dicker Bodenplatte, duktile Gusspfähle oder Kleinbohrpfähle mit geringen Bauteilmassen, Interaktion von Tragwerk und Gründung beachten, konzentrierter Lastabtrag auf wenige Gründungskörper, …), da in der Gründung meist hohe Beton- und Betonstahlmassen verortet sind.

Normativ zulässig, aber selten eingesetzt, sind unbewehrte Bauteile, hier lohnt sich die Prüfung eines Einsatzes bei Gründungsbauteilen oder Wänden.

Einsatz von treibhausgasreduzierten Betonen und Stahl

Da der Stahlbeton in vielen Bereichen weiterhin der sinnvollste und dauerhafteste Baustoff sein wird und auch die Betonmassen bei Optimierung nur bis zu einem gewissen Grad reduziert werden können, ist der Einsatz von THG-reduzierten Betonen und Betonstahl in Zukunft umso wichtiger.

Betone mit CSC-Level 1 aufwärts sparen durch die Verwendung klinkerreduzierter/klinkerarmer Zemente mindestens 30 % CO2 im Vergleich zu herkömmlichen Betonen mit CEM I. In den nächsten Jahren wird sich in diesem Anwendungsfeld sicher noch einiges an Einsparpotenzial verbessern.

Beim Einsatz von CO2-reduziertem Bewehrungsstahl bzw. Baustahl, der durch 100 % Schrottanteil und aus 100 % erneuerbaren Energien hergestellt wird, können heute schon ca. 50 % CO2 im Vergleich zu herkömmlichem Stahl gespart werden (Bild 4).

In Zukunft soll die CO2-reduzierte Stahlproduktion durch elektrolysegestützte Direktreduktion Einsparungen bis 90 %, bezogen auf den herkömmlichen Stahl, aufweisen.

Re-use

Wenn wir bei Tragwerken in Bauzyklen von 100 Jahren denken, spielt die Wiederverwendung von Tragwerkselementen eine geringe Rolle. Die Flexibilität und Langlebigkeit von Tragstrukturen, die solche Bauzyklen wahrscheinlich machen, sind wesentlich bedeutsamer. Trotzdem sollte man die Möglichkeiten zur Demontage und Wiederverwendung, die sich insbesondere im Skelettbau ergeben, auch nutzen. Mit seinen Materialeigenschaften bietet der Werkstoff Stahl wohl das größte Potenzial. Aber auch Holzkonstruktionen mit demontablen Fügepunkten spielen eine wichtige Rolle.

Die Interimsspielstätte der Württembergischen Staatsoper Stuttgart am Wagenhallenplatz wird nach diesem Prinzip konzeptioniert (Bild 5). Der Interimsbaukörper soll ein demontierbares Tragwerk erhalten, das einfach zirkulär wiederverwendbar ist.

Schlusswort

Auch wenn Holz im Hinblick auf die Bilanz von Treibhausgasen der ideale Baustoff zu sein scheint, werden wir zukünftig nicht alles in Holz bauen können. Die Menge an Holz, die eine lokale und nachhaltige Forstwirtschaft zur Verfügung stellen kann, ist einfach begrenzt. Des Weiteren ist der sinnhafte Anwendungsbereich von Holz ebenso begrenzt. Um die Emission von Treibhausgasen im Bauwesen effektiv zu verringern, müssen wir alle Stellschrauben in Betracht ziehen, um projektspezifisch die beste Lösung zu finden. Im Massivbau sind die entscheidenden Faktoren, die Quote des Bestandserhalts zu steigern und bei Neubauten Beton und Stahl möglichst dosiert einzusetzen und den Einsatz der CO2-­ärmeren Betone und Betonstähle zu forcieren.

Dr.-Ing. Lars Rölle
Dipl.-Ing. Jochen Salmen
www.mvd-plan.de

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