Ein Aufruf – von 2006
Autoren dieses Aufrufs sind acht deutschsprachige Bauingenieure aus verschiedenen Sparten dieses Berufs, die ihm nach mehreren Jahrzehnten aktiver Arbeit weiterhin eng verbunden sind. Sie nehmen Stellung zum Istzustand dieses Berufs und versuchen, die junge Generation der Bauingenieure zu weiterer engagierter Arbeit zu ermuntern, die Öffentlichkeit für unsere Arbeit zu interessieren und außerdem unsere Partner – in Beruf, Verwaltung und Industrie – um verständnisvolle Zusammenarbeit zu bitten.
1. Die Bauingenieure sind für den Bau und Erhalt der Infrastruktur verantwortlich, ohne die es kein menschenwürdiges Leben auf dieser Erde gäbe,
- kein Leben in Gesundheit mit Trinkwasser und Müllentsorgung,
- keinen Verkehr auf Straßen, Schienen, Flüssen und Flughäfen,
- keine sichere und umweltverträgliche Energieversorgung,
- keinen Schutz vor Erdbeben, Sturm und Überschwemmung,
- kein sicheres Leben und Arbeiten in den von ihnen zusammen mit Architektengeplanten Gebäuden.
2. Obwohl diese Schlüsselrolle der Bauingenieure allgemein anerkannt wird, ist das Ansehen dieses Berufsstands heute unangemessen gering. So erscheint er jungen Talenten wenig attraktiv oder er wird bei der Vergabe von Forschungsmitteln benachteiligt – mit der Folge sinkender Qualität der Infrastruktur und damit der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen aller Menschen.
3. Die Bauingenieure müssen deshalb
- sich gemeinsam mit den anderen naturwissenschaftlich-technischen Berufen dem allgemein verbreiteten Desinteresse an technischen Themen entgegenstemmen. Insbesondere rohstoffarme und deshalb existenziell vom Können ihrer Naturwissenschaftler und Ingenieure abhängige Länder dürfen es sich nicht leisten, dass Laien über Wert und Nutzen ihres Wirkens entscheiden.
- sich der Einmaligkeit ihres Berufs wieder bewusst werden und weitersagen, dass er wie kaum ein anderer auch in unserer pluralistischen und zur Spezialisierung neigenden Gesellschaft einem Einzelnen die Gelegenheit gibt, mit seinem erlernbaren naturwissenschaftlich-technischen Wissen und seiner angeborenen kreativen Begabung eigenständige Werke zu schaffen und damit die Lebensbedingungen der Menschen auf dieser Erde zu verbessern.
- sich selbstsicher, überzeugt und überzeugend ihrer sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Verantwortung stellen.
- junge Talente begeistern, die heute entweder Hightech- oder musisch-kreativ bestimmte Aufgaben suchen, indem sie ihnen die Attraktivität ihres Berufs aufzeigen, der, wie kaum ein anderer, beides bietet.
- ihren Nachwuchs bereits an den Hochschulen mit einer über das technische Wissen hinausgehenden, das selbstständige und interdisziplinäre Denken fördernden und verkrustete Lehrpläne aufbrechenden praxisnahen Lehre auf seine Verantwortung vorbereiten. Dazu gehören Bau(ingenieur)geschichte ebenso wie ein werkstoffübergreifendes System- und Modelldenken und insbesondere das selbstständige und fantasievolle Entwerfen von Ingenieurbauwerken. Dazu muss Sprachfähigkeit und Teamarbeit, also soziale Kompetenz gelehrt und geübt werden, weil der beste Entwurf keine Chance hat, wenn seine Vorzüge nicht überzeugend vermittelt werden.
- ihre ausufernden nationalen und europäischen Normen auf einen praktikablen und anschaulichen Bruchteil reduzieren, weil sonst ihre ganze Kraft und Unbefangenheit aufgezehrt und so die Grundlage kreativen Denkens verschüttet wird. Sie verbringen viel zu viel Zeit damit, nichts falsch zu machen, statt gleich das Richtige zu tun, ist doch laut Hegel „die Furcht zu irren schon der Irrtum selbst“.
- im Hochbau den Architekten als kreativer Partner zur Seite stehen, um sich nicht selbst zum Statiker zu degradieren, sich aber im Ingenieurbau ihrer großen Verantwortung nicht nur für die Sicherheit und Wirtschaftlichkeit, sondern auch für die angemessene Gestalt ihres Werks stellen. Denn es ist nicht die Gestaltung einerseits und die Bautechnik andererseits, was Architekten und Bauingenieure unterscheidet, sondern die Art der Bauaufgaben, für die sie jeweils die gesamte Verantwortung tragen. Dabei dürfen die Bauingenieure hinsichtlich des Gewichts ihrer Verantwortung auch darauf hinweisen, dass es bei Fehlern des Ingenieurs Tote, des Architekten aber nur unwirtliche Städte geben kann.
- sich sträuben, als Architekten bezeichnet zu werden, wenn sie ihrer gestalterischen Verpflichtung nachkommen, und sich wehren, wenn einem Architekten das ganze Ingenieurbauwerk bereits dann zugeschrieben wird, wenn er es nur geschönt hat.
- dafür kämpfen, dass ihr geistiges Eigentum gewahrt wird, dass sie sich nach einer erfolgreichen Wettbewerbsbeteiligung im freien Beruf keinesfalls einem Vergabewettbewerb unterwerfen müssen, um den Planungsauftrag für einen miterarbeiteten Entwurf zu erhalten, und dass sie als Unternehmer den Missbrauch ihrer technischen Sondervorschläge nicht hinnehmen müssen.
- darauf bestehen, im Vergleich zu anderen Berufen und im Hinblick auf ihre unvergleichlich hohe Verantwortung angemessen und leistungsgerecht honoriert zu werden. Dazu müssen sie sich aber auch selbst an ihre Gebührenordnung und an den Ehrenkodex ihrer Ingenieurkammer halten und eine angemessene Verhaltenskultur für ihre Zunft entwickeln.
- wie alle Bürger ihren Beitrag zum Abbau der Staatsverschuldung leisten, weil sie Ursache vieler der hier angesprochenen Missstände ist.
4. Die Gesellschaft darf deshalb
- nicht in ihrer Bereitschaft nachlassen, ganzheitliche Qualität, also technisch Zuverlässiges und gut Gestaltetes für den öffentlichen Raum zu fordern und zu finanzieren.
- nicht zulassen, dass die Summe der Ausgaben für öffentliche Investitionen geringer ist als die der Einnahmen aus neu aufgenommenen Krediten und damit immer wieder gegen Artikel 115 des Grundgesetzes verstoßen wird.
- nicht zulassen, dass zwar und zu Recht für Museen oder Kindergärten Entwurfswettbewerbe ausgeschrieben werden, die Planungsleistungen für eine Brücke aber, obwohl sie eine viel stärkere Wirkung auf ihr natürliches und urbanes Umfeld haben kann, meist nach dem niedrigsten Preisangebot vergeben werden.
- nicht verkennen, dass Mehrkosten qualitätsvoller Bauten nur die Folge von mehr Arbeit sein können, weil gute, effiziente Bauten mit weniger Werkstoffressourcen auskommen als schwerfällige und sie deshalb sozial und ökologisch zugleich sind.
- nicht zulassen, dass das technisch/wissenschaftlich qualifizierte und erfahrene Personal in der öffentlichen Verwaltung und den Spitzenpositionen der Industrie weiter ausgedünnt wird.
- nicht die Bedeutung der grundlegenden und der praxisnahen Forschung für das Bauwesen und die Infrastruktur – einschließlich des Exports von Ingenieurleistungen – unterschätzen. Sie muss darauf drängen, dass die deutsche Bundesregierung ihre Entscheidung, die Bauforschung aus dem Bundesforschungsministerium auszugliedern, revidiert.
Die Bauingenieure müssen um die Verbesserung ihres beruflichen Ansehens kämpfen, um ihrer zivilisatorischen und kulturellen Verantwortung weiterhin gerecht werden zu können. Dazu müssen sie in Forschung, Lehre und Praxis die Qualität ihrer Arbeit stetig den Bedürfnissen der Menschen anpassen und in der Gesellschaft um Anerkennung dafür werben, dass auch im Ingenieurbau Qualität ihren Preis hat.
Josef Eibl, München; Alfred Pauser, Wien; Herbert Schambeck, Andechs; Jörg Schlaich, Stuttgart; Klaus Stiglat, Karlsruhe; René Walther, Basel; Hans-Joachim Wolff, München; Wilhelm Zellner, Leinfelden-Echterdingen; im September 2006
Quelle
(2006) Verantwortung und Ansehen der Bauingenieure – ein Aufruf. Stahlbau 75, H. 11, S. 962–963. https://doi.org/10.1002/stab.200690158