Stuttgarter Nachhaltigkeitsstammtisch

Konstruktionsgeschichte mit Zukunft (?)

Wir alle kennen die Definition nachhaltiger Entwicklung über die Gerechtigkeit der Generationen untereinander: „Nachhaltig ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen ([1], S. 37).“ Diese Worte stammen aus dem Abschlussbericht Our Common Future, der unter Vorsitz der Norwegerin Dr. Gro Harlem Brundtland über die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen 1987 den internationalen Diskurs zur Nachhaltigkeitsdebatte bedeutend anregte. Wesentlich seltener wird jedoch ein ganzheitlicherer Definitionsansatz zitiert, der sich an späterer Stelle desselben Berichts befindet: „Im Wesentlichen ist nachhaltige Entwicklung ein Wandlungsprozess, in dem die Nutzung von Ressourcen, das Ziel von Investitionen, die Richtung technologischer Entwicklung und institutioneller Wandel miteinander harmonieren und das derzeitige und künftige Potential vergrößern, menschliche Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen ([1], S. 38).“

Der Unterschied zwischen den beiden Definitionen? Gegenüber der ersten, fast schon idealisierend romantischen Nachhaltigkeitsdefinition ergänzt der zweite, realitätsgetreuere Definitionsansatz diese um Forderungen nach konkreten, ganzheitlichen Verhaltensänderungen. Und lasst uns Klartext sprechen, hierin steckt auch eine deutliche Forderung nach einer Transformation der politischen Anreizstruktur. In diesem Text soll es jedoch um die genannte Richtung technologischer Entwicklungen gehen.

Richtig erkannt, in welche Richtung eigentlich? Liegt die Zukunft des Bauens von morgen möglicherweise in Konstruktionsprinzipien und -methoden von gestern? Sollte es uns, als logisch denkende Bauingenieur:innen nicht am naheliegendsten erscheinen, die Begrenzung des Anstiegs der globalen Oberflächentemperatur auf 1,5 °C gegenüber vorindustriellen Werten damit zu erzielen zu analysieren: Wie wurde eigentlich vor fortgeschrittener Industrialisierung gebaut? Lohnt es sich, gewisse Baumethoden und -prinzipien auch unter heutigen Rahmenbedingungen wieder aufzunehmen? Welche davon lassen sich in die gegenwärtige und zukünftige Baukultur integrieren?

Machen wir uns nichts vor: Die Wiederaufnahme historischer Baumethoden und -prinzipien klingt wesentlich weniger attraktiv als mit neuartigen, innovativen Ideen die Welt zu retten. Doch liegt unser Problem nicht genau dort? Sind wir nicht bereits so innovationsgetrieben, dass wir den Begriff der Exnovation kaum noch kennen? Unter Exnovation wird das Zurücknehmen oder Abschaffen von Praktiken, Prozessen oder Technologien verstanden, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen.

Damit sind Exnovationen primäre Grundvoraussetzung jeglicher ernst gemeinter Intention, eine klimagerechte Bauwende zu meistern. Während vor dem Bekanntwerden des Wissens um den anthropogenen Klimawandel die Wahl von bspw. Beton und Stahl zur flächendeckenden Bauteilmaterialisierung sowohl unter ökonomischen als auch unter sozialen Gesichtspunkten durchaus als nachhaltig zweckmäßig bezeichnet werden konnte, können wir heute, unter sich wandelnden klimatischen Gegebenheiten, nicht immer davon sprechen, dass dieser Zweck bei Vorliegen gleichwertig funktionaler Materialalternativen weiterhin allgemein erfüllt wird.

Doch um auf die Frage der Richtung zurückzukommen: Hat auf jede Exnovation eine Innovation zu folgen? Wir wollen am Beispiel von Geschossdecken durchexerzieren, inwiefern es sich stattdessen lohnt, einen Blick in der Konstruktionsgeschichte zurück, auf die Zeit vor fortgeschrittener Industrialisierung und damit auf die Zeit vor zunehmender Verbreitung der Stahlbetonbauweise, zu werfen.

Im Regelfall werden Geschossdecken der heutigen Zeit als ebene Plattensysteme ausgebildet, die rein über Biegung tragen. Damit stellen sie nicht nur aus Sicht materialeffizienter Ingenieurbaukunst wenig elegante Lösungen dar, sondern lassen auch den Einsatz zugschwacher, ökologischer Alternativen wie Natur- und Kunststein oder gebrannte und ungebrannte Lehmbauprodukte nicht zu. In früheren Stadien der Konstruktionsgeschichte waren Methoden der gemauerten Deckenausbildung verbreitet, die in gegenwärtiger Zeit wieder interessant werden könnten. Bild 1 zeigt eine Preußische Kappendecke, Bild 2 die Decke der Public Library, Boston, in katalanischer Gewölbetechnik (engl.: catalan vaulting). Aufgrund des maßgeblichen Lastabtrags über Druckspannungen der ein- oder zweiaxial flach gekrümmten Elemente eignen sich diese Systeme auch für Materialien, die nur geringe Zugfestigkeiten aufweisen – und damit auch für viele ökologischere Alternativen, die im Normalfall nur im Vertikalabtrag zum Einsatz kommen.

Bild 1 Preußische Kappendecke in einem Wohnhaus
Bild 1 Preußische Kappendecke in einem Wohnhaus
Quelle: istockphoto
Bild 2 Decke in katalanischem Gewölbebau in der Public Library, Boston

Quelle: eigene Aufnahme
Bild 2 Decke in katalanischem Gewölbebau in der Public Library, Boston
Quelle: eigene Aufnahme

Während das gezeigte zweiaxial gekrümmte, punktgestützte Deckensystem der Public Library in Boston ganz ohne Biegebauteile auskommt, wurden die Segmenttonnen von Kappendecken im ­Regelfall auf einer Unterkonstruktion aus Stahlträgern gelagert. Zu Nachkriegszeiten kamen hierbei häufig alte Eisenbahnschienen zum Einsatz [2].

Doch wie sieht es mit der Eignung solcher Systeme in der gegenwärtigen Baukultur, unter heutigen Rahmenbedingungen aus? Hinsichtlich bauphysikalischer Aspekte, wie der Akustik oder des nicht brennbaren Materials, sowie der universellen Verfügbarkeit der Rohstoffe Ton, Lehm und Naturstein ist eine Wiederaufnahme durchaus als lohnenswert zu betrachten.

Demgegenüber ist das manuelle händische Mauern flach gewölbter Deckensysteme vor Ort – unter dem Gesichtspunkt, dass die Personalkosten in heutiger Zeit deutlich die Gesamtbaukosten tangieren – nicht weiter wirtschaftlich. Aber hey! – gerade hier darf dann der Innovationsgeist zum Einsatz kommen, der doch oft so hoch angepriesen wird. Eine werkseitige Vorfertigung serieller Module in verschiedenen Rastergrößen oder in robotischem Verfahren könnte Abhilfe schaffen.

Und wie sieht es nun tatsächlich mit der Reduzierung des globalen Treibhauspotenzials solcher Systeme gegenüber konventionellen Stahlbetondecken aus? Im Rahmen einer Forschungsarbeit an der Universität Stuttgart [3] wurde aufgezeigt, dass sich bei Kappendecken in ursprünglicher, historischer Ausführung mit hochfest gebrannten Ziegelsteinen im Falle neuer, nicht wiederverwendeter Stahlträger keine CO2e-Ökobilanzeinsparungen erzielen lassen. Aber so viel zum bereits Erwarteten. Hier bleibt nun Raum, aus historischen Prinzipien zu lernen und diese neu zu interpretieren:

Zu Zeiten der Nachkriegskrise wurden alte Eisenbahnschienen wiederverwendet. In unserer Krise sollten wir nicht an bürokratischen Zulassungsregularien für den Wiedereinsatz unbeschädigter Bauteile scheitern.

Und braucht es tatsächlich hochfest gebrannte Ziegel? Was ist mit dem Einsatz von Lehmsteinen? Unter Aspekten wie den derzeitigen Energiekosten sind diese nicht nur ökologisch, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht attraktiv. Die Produktnormen DIN 18945 für Lehmsteine [4] und DIN 18946 für Lehmmörtel [5] sowie die Veröffentlichung der DIN 18940 Tragendes Lehmsteinmauerwerk – Konstruktion, Bemessung und Ausführung [6] ebnen uns seit diesem Jahr hierzu den Weg.

Die Dauerhaftigkeit und Wasserlöslichkeit sind natürlich nicht zu vernachlässigen. Aber was wäre mit Abdichtungen aus diffusionssperrenden Membranen? Oder Restriktionen auf die Anwendung bei trockenen Innenraumgeschossdecken, an denen keine Nassleitungen angrenzen, in Gebäudeklasse 1? Vielleicht liegt das Optimum auch irgendwo zwischen ungebrannten Lehmsteinen und CO2e-intensiv gebrannten Klinkern. In ariden Teilen der Erde bietet sich bis zu gewissen Graden eine reine Lufttrocknung an. Da­rüber hinaus könnten Synergieeffekte, die bspw. aus einer verstärkten Nutzung der Abwärme aus Ziegeleien oder der Holztrocknung resultieren, intensiviert werden. Keinesfalls soll die klimagerechte Bauwende auf Kosten unserer Sicherheitsstandards gehen. Sie darf jedoch auch nicht an unserer Bequemlichkeit, obsoleten bürokratischen Restriktionen oder dem Verharren im business as usual scheitern.

Dieses Beispiel soll exemplarisch Anreize schaffen, gewisse historische Baumethoden und -prinzipien auf ihre Übertragbarkeit in die Baupraxis von morgen zu untersuchen und ggf. zu modifizieren. Mit Sicherheit ist dies nicht für jeden Anwendungsfall zielführend. Lasst uns als kritisch hinterfragende Akteure des Bausektors unserer Zeit jedoch nicht zögern, auch unkonventionelle Denkansätze zu verfolgen.

Um auf den Abschlussbericht Our Common Future der Brundtland-Kommission zurückzukommen: In dessen letztem Kapitel A Call For Action wird darauf verwiesen, dass die Veränderung der Umwelt, die aus anthropogenem Handeln resultiert, schneller vonstattengeht, als Wissenschaft und vorhandene Institutionen zur Beratung und Beurteilung dieser fähig sind mitzuhalten. Eine Veränderung der Einstellungen sowie eine Neuorientierung von Institutionen und Politik wird gefordert, um den notwendigen Wandel erzielen zu können. Beendet wird der Bericht, der 1987 veröffentlicht wurde, mit dem Statement: „Wir sind uns einig in unserer Überzeugung, dass die Sicherheit, das Wohlergehen und das Überleben unseres Planeten von solch einem Wandel abhängen, und zwar heute ([1], S. 231).“

Lasst uns auf dieses Heute keine weiteren 37 Jahre warten.


Literatur

  1. United Nations World Commission on Environment and Development [eds.] (1987) Our common future (Brundtland Report).
  2. Ahnert, R. (2001) Typische Baukonstruktionen von 1860 bis 1960, Band II: Zur Beurteilung der Bausubstanz. 6. Aufl. Berlin: Verl. Bauwesen.
  3. Machanek, S. (2022) Konstruktionsgeschichte mit Zukunft. Analyse und Optimierung historischer, gemauerter Deckensysteme und Ermittlung von möglichen Ökobilanz-Einsparpotentialen unter heutigen Fertigungsmöglichkeiten [Masterarbeit]. Institut für Werkstoffe im Bauwesen, Universität Stuttgart.
  4. DIN 18945:2018-12 (2018) Lehmsteine – Anforderungen, Prüfung und Kennzeichnung. Berlin: Beuth. Ausgabe Dezember 2018.
  5. DIN 18946:2018-12 (2018) Lehmmauermörtel – Anforderungen, Prüfung und Kennzeichnung. Berlin: Beuth. Ausgabe Dezember 2018.
  6. DIN 18940:2023-04 (2023) Tragendes Lehmsteinmauerwerk – Konstruktion, Bemessung und Ausführung. Berlin: Beuth. Ausgabe April 2023.

Stuttgarter Nachhaltigkeitsstammtisch

Termin: jeder letzte Dienstag im Monat, 18.00 Uhr
Ort: online, MS-Teams
Kontakt: sustainability@knippershelbig.com


Autor:in

Sabrina Machanek, M.Sc.
s.machanek@knippershelbig.com

knippershelbig GmbH, Stuttgart
www.knippershelbig.com


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