A4F konstruktiv

Ist Innenarchitektur per se nachhaltiger?

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„Wir haben schon immer im Bestand gebaut, arbeiten also seit jeher nachhaltig.“ Diese Aussage von Innenarchitekt:innen hört man immer häufiger. Ob dem wirklich so ist und wo die Verantwortung von Innenarchitekt:innen im Bezug zur Bauwende liegt, dem gehen wir in dieser Kolumne nach.

Auf den ersten Blick scheint die Antwort klar: Innenarchitektur arbeitet im Bestand, optimiert vorhandene Räume und reduziert damit den Flächenverbrauch. Doch der Schein trügt: Zum einen waren Innenarchitekt:innen auch zuvor nicht diejenigen, die Abriss und Neubau von Gebäuden forderten, ihre Ausgangslage vom Bauen im Bestand bleibt also die gleiche, zum anderen beinhaltet die Innenarchitektur besonders kurzlebige und ressourceninten­sive Sparten von Messebau über Shop- oder Officedesign bis hin zu aufwendigen Materialinszenierungen in der Luxussparte – nicht jede innenarchitektonische Maßnahme ist also automatisch nachhaltig.

Innenarchitekt:innen tragen Verantwortung, den Bestand nicht nur ästhetisch, sondern auch funktional und ökologisch zu verbessern. Doch allein das Arbeiten im Bestand reicht nicht aus, wenn die gewählten Materialien nur für einen Lebenszyklus bestimmt sind und in den oben beschriebenen Sparten teils nach nur wenigen Tagen bis Wochen zu Bergen von Abfall werden. Der schnelle Austausch von Materialien, oft ohne Rücksicht auf ihre Herkunft oder Rezyklierbarkeit, steht im klaren Widerspruch zur Forderung nach Kreislaufwirtschaft im Bauwesen. Es bräuchte modulare Systeme und rückbaubare Konstruktionen statt fester Einbauten, speziell für einen Ort angefertigt, sowie Materialkonzepte, die Wiederverwendung (Re-Use) und Wiederverwertung (Recycling) ermöglichen. Natürliche und nachwachsende Materialien, Monomaterialien und Materialpässe können zur Lösung beitragen.

Neben Effizienz und Konsistenz stellt v. a. die Suffizienz (Bedarfe überdenken) für Innenarchitekt:innen einen enormen Hebel bei der Gestaltung nachhaltigerer Projekte dar. Auf Materialebene geht es darum, so viel Ressourcen wie nötig, aber so wenig wie möglich einzusetzen. Weitere Aspekte sind die Flächensuffizienz und das frühzeitige Mitdenken von möglichen Nachnutzungsszenarien, die nicht nur einen ökologischen Nutzen, sondern auch einen finanziellen Anreiz setzen. Flexible Raumkonzepte tragen dazu bei, dass Gebäude nicht nach wenigen Jahren durch neue Nutzungsanforderungen obsolet werden.

Für all das braucht es jedoch nicht nur neue Bau-, sondern v. a. Arbeits- und Denkweisen: Der lineare Entwurfsprozess, bei dem Verbleib und Rückbau von Einbauten und Möblierung ausgeklammert werden, muss der Vergangenheit angehören. An seine Stelle tritt im Sinne einer echten Kreislaufwirtschaft ein kreislauffähiger Entwurfsprozess, bei dem gut dokumentierte Materialrestwerte durch rückbaubare Möblierung und Raumoberflächen mitgedacht werden. Darüber hinaus braucht es eine starke Haltung, um Kund:innen davon zu begeistern, zukünftig auf nachhaltigere Lösungen zu setzen.

Es wäre also ein Trugschluss zu glauben, dass Innenarchitektur allein durch ihre Arbeit im Bestand per se nachhaltig ist. Auch hier müssen etablierte Praktiken hinterfragt und neue Standards gesetzt werden. Dabei bietet besonders die Innenarchitektur ein breites Experimentierfeld für Rückbaubarkeit und Re-Use, Wohngesundheit und schonenden Materialeinsatz – finden hier i. d. R. weniger Normen und Auflagen Anwendung. Innenarchitekt:innen tragen eine ebenso große Verantwortung wie Architekt:innen oder Stadtplaner:innen bei der Mitgestaltung der (Um-)Bauwende. Es braucht ein Umdenken, weg von kurzfristigen Designlösungen hin zu langfristig nutzbaren, ressourcenschonenden Konzepten.

Die Innenarchitektur hat das Potenzial, nicht nur Räume zu verändern, sondern auch Denkweisen. Dieses Potenzial muss genutzt werden – mit Mut zur Veränderung, mit Innovation und mit einem klaren Bekenntnis zur Bauwende. Nachhaltigkeit beginnt nicht draußen, sondern oft genau da, wo wir sie am wenigsten vermuten: im Detail, im Material und in der Haltung, mit der wir planen.


Autor:in

Stefanie Böhnert, hallo@stefanieboehnert.de
freischaffende Innenarchitektin

Architects for Future Deutschland e. V.
www.architects4future.de

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