Über Prioritäten und Schmutzkampagnen
Bei Diskussionen über die Klimakrise wird die Erde oft mit einem brennenden Haus verglichen. Es brennt zwar noch nicht lichterloh, eher an vielen kleinen Stellen und auch sehr langsam – aber es brennt, und die Tendenz ist verhängnisvoll. Ich habe mir angewöhnt, die Dinge immer im Kontext mit diesem Haus zu betrachten. Zum Beispiel, als vor den letzten Bundestagswahlen herauskam, dass Kanzlerkandidatin Baerbock vermeintlich einiges aus anderen Quellen für ihr Buch Jetzt abgeschrieben hatte. Dass das Buch keine Doktorarbeit war und damit keine regelkonformen Zitierungen anzuwenden waren, bremste den Plagiatsjäger in seiner Akribie nicht. Sicherlich zwei Wochen lang entlud sich ein Sturm der Entrüstung.
Wie aber konnte sich halb Deutschland über das Zusammenkopieren eines Buchs aufregen (in Besorgnis über die charakterliche Eignung der Kanzlerkandidatin) und darüber den Inhalt desselben in den Hintergrund drängen: Baerbock s politische Vision und ihre Strategien zur Lösung der Klimakrise. War all dies nun nicht gültig, nur weil sie ggf. ein paar fremde Textbausteine verwendet hatte? Oder, in der Metapher des brennenden Hauses gesprochen: Darf der Schlauch zum Löschen des Hauses nicht verwendet werden, nur weil er nicht ordnungsgemäß entliehen wurde?
Soweit die Argumentation für ethisch Denkende. Eine Ebene darüber sieht es leider so aus, dass den Gegnern des Klimaschutzes schon längst die Argumente ausgegangen sind, ihre jahrzehntelangen Falschbehauptungen enttarnt wurden und sie sich in ihrer Verzweiflung der Schopenhauer schen Kunstgriffe bedienen müssen. Der ehemalige Chef-Stratege Trump s, Steve Bannon , vereinfachte Schopenhauer s ultima ratio dann zur Devise flood the zone with shit . Diesem Schmutz werden wir nun tagtäglich über öffentliche und soziale Medien ausgesetzt, und leider sind derartige Schmutzkampagnen auch noch von der Meinungs- und Pressefreiheit gedeckt – was übrigens noch einmal überprüft werden sollte.
Aber woher kommt diese ungeheure negative Energie? Wieder eine Ebene höher haben wir es mit einem Abhängigkeitsverhältnis zu tun: Die Droge heißt maßloser Wohlstand oder perverser Reichtum. Und was passiert bei Entzug jeder Droge oder Androhung des Entzugs? Die Abhängigen werden aggressiv.
Auch der nächste Fall sollte den meisten bekannt sein: Patrick Graichen und seine Trauzeugen-Affäre. Im September 2021, also kurz vor der Bundestagswahl, sprach Herr Graichen als Schlussredner auf dem Energiekongress der KfW und der Bundesarchitektenkammer: Thema Klimaneutralität im Gebäudesektor mit Schwerpunkt Heizen. Damals war er Direktor der Denkfabrik Agora Energiewende, die ein sehr detailliertes und ambitioniertes Klimaschutz-Sofortprogramm für die ersten 100 Tage der neuen Bundesregierung ausgearbeitet hatte. Als Staatsminister bekam er die Chance zur Umsetzung, auch wenn Putin s Angriffskrieg die ersten 100 Tage der neuen Regierung ordentlich durcheinanderwirbelte – und damit die Umsetzung des 100-Tage-Programms.
Während der Trauzeugen-Affäre hörte ich einmal den Kommentar, dass es leider viel zu wenig Experten auf dem Gebiet gäbe, welches sich Agora erarbeitet hatte, und somit Herr Graichen und andere von Agora übernommene Mitarbeiter:innen wohl schwer zu ersetzen wären. Zugegeben: Der Druck der Opposition und der öffentlichen Meinung auf Herrn Habeck , Graichen zu entlassen, war enorm. Selbst die heute-show zerpflückte die Affäre genüsslich. Dennoch hätte ich mir von Herrn Habeck mehr Standhaftigkeit gewünscht, und die Entlassung war meines Erachtens ein schwerer Fehler – in mehrfacher Hinsicht. Graichen s etwaige Rechts- und Regelverstöße sollten natürlich geahndet werden, aber seine Entlassung bedeutete, dass der Gesinnungsethik mehr Gewicht zugesprochen wurde als der konsequenten Bekämpfung der Klimakrise. Sollten nur Menschen mit weißer Weste den Klimaschutz vorantreiben dürfen? Ein meiner Meinung nach fatales Signal! Die Heuchelei einer verantwortungslosen Opposition und die Lobby der fossilen Energieträger hatten die Truppe Habeck s erfolgreich malträtiert. Als Nächstes ging es an die Verunglimpfung der Novelle des Gebäudeenergiegesetzes, woraufhin der Markt für Wärmepumpen einbrach und die Zustimmungswerte der Grünen bis in das derzeitige Jammertal sanken.
Das Resümee: Es ist sicherlich wichtig, von Werten geleitet zu sein, aber der Klimaschutz macht sich gegenüber seinen Gegnern angreifbar, wenn sämtliche Werte gleichberechtigt eingehalten werden sollen. Natürlich sollten Fehler vermieden, Fettnäpfchen ausgelassen werden. Wenn sie aber passiert sind, muss den Förderern des Klimaschutzes klar sein (und den Gegnern klargemacht werden), dass sie gegenüber der Notwendigkeit zu bestmöglichem Klimaschutz unbedeutend sind. Denn was sind Gerechtigkeit, Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie und Wirtschaft ohne den Klimaschutz? Nichts! Was sind die technischen Errungenschaften, die Künste, der Stolz der menschlichen Zivilisation, wenn der Klimaschutz nicht konsequent verfolgt wird? Ein Hohn.
Mit fortschreitender Klimakrise werden immer härtere Entscheidungen getroffen werden müssen – schließlich von einer Härte und Schmerzlichkeit, wie wir sie uns heute noch gar nicht vorstellen können. Das Haus brennt, und der Brand muss eben auch durch konsequente Verantwortungsethik bekämpft werden.