Reducing Carbon

Entwürfe für die Tonne

Im Tragwerksentwurf ändern sich die Randbedingungen und Prioritäten aktuell wie schon lange nicht mehr. Die Reduktion des ökologischen Fußabdrucks und die Anwendung der Prinzipien der Kreislaufwirtschaft führen zu neuen und vielfältigen Möglichkeiten. Am 12. März 2024 durfte ich meine offizielle Einführungsvorlesung als Professorin für Tragwerksentwurf am Architekturdepartement an der ETH Zürich halten. Der vorliegende Text bezieht sich darauf in Form eines Exposés.

1 Einleitung

Reducing Carbon – Entwürfe für die Tonne. Die Doppeldeutigkeit des Untertitels ist bewusst gewählt. So geht es einerseits um die Reduktion des ökologischen Fußabdrucks unserer Tragwerke, um Entwurfsstrategien, die die eingesparten Tonnen an Treibhausgasen ins Zentrum stellen. Andererseits können wir noch nicht auf allzu viele tatsächlich unter diesem Schwerpunkt erstellte Gebäude zurückgreifen und deshalb stammen die nachfolgenden Beispiele zu einem großen Teil aus nicht gewonnenen Wettbewerbsentwürfen, die so nie realisiert werden und folglich auch in dieser Hinsicht erst mal für die Tonne waren. Die Reduktion der Treibhausgasemissionen in allen Bereichen des Lebens ist eine der Hauptaufgaben unserer Generation, sie wird uns begleiten und unsere Entscheidungen beeinflussen und lenken. Als Bauingenieurin ist mein aktueller Fußabdruck nicht gerade klein. Unsere Materialien stammen immer noch hauptsächlich aus Primärressourcen, benötigen große Mengen an nicht erneuerbarer Energie in der Herstellung und Aufbereitung und werden nicht selten über weite Strecken transportiert, bis sie endlich verbaut sind. Werden die Gebäude nach ein paar Jahrzehnten rückgebaut, fehlen uns bis auf wenige Ausnahmen geschlossene Werkstoffzyklen, die das Material in gleichbleibender Qualität wieder zur Verfügung stellen könnten. Dies bedeutet einerseits, dass die Reduktion dieses Fußabdrucks eine große Aufgabe ist, andererseits aber auch, dass wir wirklich etwas bewirken können, wenn wir sie angehen.

Als ich vor etwas mehr als zehn Jahren angefangen habe zu arbeiten, war von diesen Themen noch nichts zu spüren. Ein Tragwerksentwurf im Hochbau in der Schweiz beschränkte sich in vielen Fällen auf Beton, Deckenplatten auf Stützen und einem Kern, man diskutierte über Spannweiten (die möglichst groß sein sollten) und daraus folgende Deckenstärken und Stützenquerschnitte (die möglichst gering sein sollten). Grundsätzlich und vereinfacht gesagt, gab es als Tragwerksplaner zwei mögliche Szenarien, wie man ein Tragwerk gestalten konnte. Variante 1 lautete Möglichst nirgends im Weg zu sein , sprich, ein Tragwerk zu entwerfen, das als solches nicht in Erscheinung tritt, sondern sich hinter der Architektur verbirgt und unauffällig im Hintergrund seine Dienste tut. Variante 2 war das Gegenteil, eine Statement Structure , die das Gebäude und den architektonischen Entwurf prägt und darauf abzielt, die Laien möglichst staunend vor dem Gebäude verharren zu lassen. Uns war die zweite Variante i. d. R. lieber, denn nur damit konnte man sich als Tragwerksplaner wirklich profilieren, indem man etwas errichtete, das sich nicht jeder getraut hätte, noch etwas höher, noch etwas weiter und gewagter. Man tat es, nicht nur weil die Aufgabe es erforderte, sondern v. a., weil man es konnte.

Eine meiner ersten Aufgaben im Büro war der Grosspeter Tower in Basel (Bild 1). Der städtebauliche Entwurf folgte aus einem Gestaltungsplan für das gesamte Areal. Dieser sah vor, am Stadteingang zwischen Bahnhofseinfahrt und Autobahnausfahrt einen Hochpunkt zu setzen, der aufgrund von Schattenwurf und Straßenverlauf aber nicht komplett auf seinem Sockel Platz fand, sondern um ca. 9 m in beiden Richtungen auskragt. Dies soll hier kein Negativbeispiel sein und es ist mir wichtig zu betonen, dass das Projekt einen großen Wert auf Nachhaltigkeit legte, es ist Lead-zertifiziert und besitzt ein Erdsondenfeld sowie eine der ersten großflächigen Solarfassaden der Schweiz. Beim Entwurf des Tragwerks und beim Beantworten der Frage, wie diese auskragende Ecke zu halten resp. abzufangen sei, war die graue Energie dennoch zu keiner Zeit ein Thema. Nach vielen Varianten haben wir schließlich einen Stahlrahmen vorgeschlagen und ausgeführt, der das gesamte Gebäude umfasst, die Auskragung abfängt und aus Gründen des Brandschutzes und der architektonischen Gestaltung vollständig einbetoniert ist (Bild 2).

Wenn ich heute auf diesen und andere Tragwerksentwürfe zurückblicke, geschieht dies mit gemischten Gefühlen. Ingenieurtechnisch war das etwas Großes, als Berufsanfängerin sowieso, und es ist noch immer eine Freude, bei der Ankunft in Basel daran vorbeizufahren. Nichts war grundsätzlich falsch an den damaligen Entscheiden, jede Zeit bringt ihre eigene Priorisierung an Entscheidungskriterien und es ist müßig, im Nachhinein da­rüber zu grübeln. Dennoch könnte ich mir nicht mehr vorstellen, ein ähnliches Tragwerk noch einmal mit Überzeugung vorzuschlagen. In den letzten fünf/sechs Jahren hat sich unser Verständnis des Bauens grundlegend und entscheidend verändert. Der Klimawandel, der ja wahrlich nicht neu ist, hat uns endgültig eingeholt und im Tragwerksentwurf ist nichts mehr so wie vorher.

Heute entwerfen wir Tragwerke mithilfe von Ökobilanzen, die den Fußabdruck eines Baumaterials oder auch eines ganzen Bauteils über alle Stationen der Herstellung, Nutzung und Entsorgung aufsummieren und vergleichbar darstellen. Der in der Schweiz vorhandenen Datenbank [1] entnehmen wir den Fußabdruck der eingesetzten Materialien und skalieren ihn auf die Gebäudetragwerke hoch. Der Gesamtfußabdruck ist umso kleiner, je geringer der Fußabdruck der eingesetzten Materialien ist und/oder je weniger Material wir einsetzen.

Und dies führt zu völlig neuen Randbedingungen, Prioritäten im Entwurf und somit zu Tragwerksentwürfen, die vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen wären.

2 Alles in Holz?

Eine Reduktion des CO2-Fußabdrucks im Tragwerk auf Materialebene führt in den meisten Fällen zum Holz, weil es nachwächst, dabei CO2 einspeichert und damit aktuell den Status des Allheilmittels der Baubranche innehat. Gleichzeitig soll das Holz auch in anderen Industrien als nachhaltiger Ersatz dienen, bspw. bei Textilien, bei Heizsystemen oder in der chemischen Industrie. Während die Holznutzung und damit die Holzernte im Sinne des Klimas also ansteigt, sollen die Wälder gleichzeitig möglichst wachsen, um so viel CO2 wie möglich zu speichern.

Bild 3 vergleicht verschiedene Studien zum geschätzten weltweiten Holzbedarf [2]. Ganz links ist der aktuelle jährliche Holzverbrauch von ca. 4 Mrd. m3 weltweit aufgeführt, der neben dem Bau auch alle anderen Holzanwendungen umfasst. Im Bauwesen wird ca. ein Viertel dieser Menge eingesetzt [3]. Laut WWF ist diese Nutzung heute bereits zu hoch, da global gesehen mehr als 80 % des jährlich zugewachsenen Holzes geschlagen werden und die Gesundheit der Wälder so in Gefahr sei [4]. Vergleicht man diesen Wert nun mit der daneben aufgeführten Säule, die den Holzverbrauch bei vollständigem Ersatz der weltweiten Betonproduktion (inkl. Zusatzstoffen) zeigt, haben wir eine Deckungslücke von ca. 90 %. Rein in oberirdischen Gebäudetragwerken wird zwar nicht ganz so viel Beton eingesetzt (4. Spalte), es übersteigt die gesamte aktuelle Holzmenge aber immer noch um ca. 20 %, die heute im Bau eingesetzte Menge würde ca. verfünffacht.

Holzbau kann also nicht die alleinige Lösung sein, und eigentlich wäre es ja auch langweilig, nun alles nur noch in Holz zu bauen.

Die Frage lautet: Wo ist der Einsatz von Holz als Tragwerk sinnvoll? Sollen wir die Art und Form der Gebäude an den Holzbau anpassen oder können wir mit Holz Dasselbe entwerfen wie bisher in Beton? Wenn nicht, wie erkenne ich, ob Holz sinnvoll ist oder eher nicht?

Die meisten von uns haben gelernt, ein Tragwerk in Beton zu denken. Wir kennen die üblichen Spannweiten, Deckenstärken und Stützengeometrien und wissen, wie wir daraus Tragwerksraster erhalten, die für die jeweilige Nutzung optimal funktionieren. Holz aber verhält sich in vielen Bereichen anders, als Beton dies tut. Ein Tragwerk in Beton zu denken und in Holz auszuführen, ist nur bedingt zweckmäßig. Es führt i. d. R. zu größeren Spannweiten und damit zu konzentrierteren, höheren Lasten als bei einem Holzbau sinnvoll. Natürlich ist heute auch in Holz technisch gesehen beinahe alles machbar, es ist eine reine Frage der Bauteilabmessungen und des Geldes (Bild 4).

Doch indem wir Holz an seine technischen Machbarkeitsgrenzen bringen und als Hochleistungsbaustoff einsetzen, verlieren wir die zweite Zielsetzung nachhaltiger Tragwerke aus den Augen, von den eingesetzten Materialien möglichst wenig zu verbrauchen. Denn es ist keineswegs so, dass ein Holzbauteil keinen CO2-Fußabdruck aufweisen würde, durch die technische Holzverarbeitung und die Verleimungen ist dieser Fußabdruck durchaus vorhanden und wird grö ß er, je stärker verarbeitet mein Holzbauteil ist – sprich, je weiter es sich von der ursprünglichen Form des Baumstamms entfernt, um größere Räume überspannen und größere Lasten abtragen zu können.

Um den CO2-Fußabdruck von reinen Holztragwerken gering zu halten, sollten die Bauteile die Ressource Holz sparsam einsetzen und gleichzeitig einen möglichst geringen Leimanteil aufweisen, bestenfalls gar nicht verleimt sein. Ohne hier zu sehr einschränkend zu sein, führt dies vernünftigerweise zu Spannweiten von unter ca. 6 m, Nutzlasten im Wohn- resp. Bürobereich und Feuerwiderständen von maximal 60 min .

Reine Holztragwerke sind also v. a. bei Wohn- und Bürobauten mittlerer Gebäudehöhen, die keine großen Spannweiten erfordern, eine sehr ökologische Lösung, insbesondere dann, wenn die nicht zum Tragwerk gehörenden Schichten der Decken und Zwischenwände ebenfalls aus nachwachsenden oder erdbasierten Werkstoffen bestehen.

Diese Schichten sind in vielen Fällen notwendig, um neben dem Brandschutz auch den Schallschutz zu gewährleisten, den das Holz allein nicht erfüllen kann. Die mineralische, thermische Speichermasse, die verhindert, dass Gebäude im Sommer überhitzen, kommt meist noch dazu. Werden diese Schichten gips- oder zementbasiert ausgeführt, sind die durch das Holz eingesparten Emissionen hier meist bereits wieder eingebaut und man hat unter dem Strich ökologisch gesehen nicht viel gewonnen. Anders sieht es aus, wenn wir Zementestrich und Gipsplatten bspw. durch Lehm ersetzen. Lehm bietet sich als natürlicher Verbündeter des Holzes an, da er dessen Schwächen zu seinen Stärken zählt, in großen Mengen vorhanden ist und einen sehr geringen CO2-Fußabdruck aufweist (Bild 5). Gleichzeitig brauchen wir weitere Lösungen und Konzepte für den nachhaltigen Tragwerksentwurf, die über den Holzbau hinausgehen.

3 Naturstein, eine vergessene Ressource?

Neben Holz und Lehm gehört v. a. Naturstein zu den Tragwerksmaterialien, die, sofern lokal erschlossen und verbaut, einen sehr geringen CO2-Fußabdruck aufweisen. Aus historischen Bauten wissen wir, dass Naturstein statisch gesehen ein enormes Potenzial entfalten kann, was den Abtrag von vertikalen Lasten angeht. Im modernen, nachhaltigen Bauen liegt ein gewaltiges Potenzial brach, das Natursteintragwerk in die Zukunft zu führen und nicht nur vertikal, sondern auch horizontal, insbesondere bei Erdbeben, mit den notwendigen Sicherheiten bemessen zu können (Bild 6).

Dies u. a. auch deshalb, weil Lehm resp. Erde und Steine die einzigen Rohstoffe sind, die die Schweiz in großzügigen Mengen besitzt und die u. a. auch aus diesem Grund in der Baubranche, die gewaltige Mengen an Rohmaterial benötigt, in großen Mengen eingesetzt werden. Der Einsatz von Lehm und Stein erfolgt jedoch nicht direkt, sondern in gebrannter Form als Backstein, Gips und Zement einerseits und als Zuschlag im Beton andererseits, was zwar die Zuverlässigkeit der Materialien erhöht, dies aber erkauft mit einem großen Verbrauch an nicht erneuerbarer Energie und einem gewaltigen ökologischen Fußabdruck.

4 Doch wieder Beton?

Bei Beton stammt der CO2-Fußabdruck aus der Zementproduktion, die gemäß Statistik allein ca. 7 % des globalen Ausstoßes aller Treibhausgase ausmacht. Keine andere produzierende Einzelindustrie weist einen derart hohen Anteil auf. Gleichzeitig ist Beton ein wunderbares Material, das wir schätzen durch seine statischen Fähigkeiten, seine Vielseitigkeit in der Form und im Ausdruck und von dem wir uns nur ungern trennen. Die Suche nach dem Betontragwerk der Zukunft hat gerade erst begonnen und wir können nur erahnen, wo sie uns hinführen wird. Im Moment gelten auch hier die Grundsätze: Wenn Beton, dann aus einer möglichst CO2-reduzierten Mischung und davon so wenig wie möglich.

Als Tragwerksplaner und Ingenieure können wir versuchen, die Effizienz unserer entworfenen Tragwerke maximal auszunutzen, sodass die Kombination von Kraftfluss und eingesetzten Materialien zum kleinstmöglichen Fußabdruck führt. Eine Möglichkeit sind Hybridtragwerke, die einzelne Bauteile unterschiedlich materialisiert und gemäß ihren Stärken einsetzen.

Generell gehen wir von einer zunehmenden Tragfähigkeit von Holz via Beton zu Stahl aus, es kann aber auch einmal andersherum funktionieren, wenn ein Beton mit geringer Festigkeit und daher kleinem CO2-Fußabdruck, optimal als Gewölbe eingesetzt, auf den stärkeren Trägern und Stützen in Buchenholz aufliegt (Bild 7). Das sorgfältige Materialisieren einzelner Elemente und deren Zusammenspiel ist die Kunst der Hybridtragwerke. So sind oft nicht nur zwei, sondern drei oder mehr Materialien im Tragwerk vorhanden, jedes so, wie es am sinnvollsten eingesetzt werden kann. So gehört bspw. auch Stahl zu diesem Tragwerk hinzu – einerseits für die Unterspannung der Deckenelemente, andererseits als aussteifende Verbände in den Decken und Fassaden.

Hochhäuser sind aufgrund der Brandschutzanforderungen immer eine Herausforderung. Gleichzeitig benötigen sie insbesondere in den unteren Geschossen sehr viel Material, das nicht nur sein eigenes Gewicht, sondern auch das Gewicht aller darüberliegenden Geschosse tragen muss. Je leichter das einzelne Geschoss, desto besser für die gesamte Struktur. Im Falle von schweren Materialien wie Beton geht die Reduktion des Gewichts direkt mit der Reduktion des Fußabdrucks einher, denn wo weniger Material vorhanden ist, wird es automatisch leichter und ökologischer.

Um den Fußabdruck eines Betontragwerks zu reduzieren, muss das Ziel folglich sein, die Struktur so effizient wie möglich dem Kräfteverlauf folgend zu entwerfen und gleichzeitig die Betonmischung exakt auf die jeweiligen Bedürfnisse abzustimmen (Bild 8). Parametrische Bemessungen und Design von Betondecken helfen dabei, die Menge an Material möglichst zu reduzieren und so materialsparend wie möglich zu konstruieren. Die Betonflachdecke mit eingelegter Gebäudetechnik war eine wirtschaftlich optimierte, aus Bequemlichkeit der Leitungsführung und aus ästhetischen Gesichtspunkten heraus entstandene Konstruktion des 20. Jahrhunderts, die zu keiner Zeit statisch effizient war und die in der heutigen Zeit nichts mehr zu suchen haben sollte. Im Vergleich mit einer Flachdecke lassen sich durch Parametrisierung und Effizienz im Kraftverlauf problemlos 50 % der CO2-Emissionen einsparen, ohne die potenziellen Einsparungen CO2-reduzierter Betonsorten einzurechnen.

Bei Beton geht es aber nicht nur darum, die neuen Emissionen möglichst gering zu halten, sondern den bereits verbauten Beton möglichst lange im Einsatz zu lassen, um die bei seiner Erstellung angefallenen Emissionen über einen möglichst langen Zeitraum zu amortisieren. Der Abbruch von bestehenden Tragwerken sollte vermieden, die bestehenden Tragwerke möglichst lange weitergenutzt werden.

Umbauen und Weiterbauen waren aufgrund teurer Baumaterialien und schwieriger Beschaffung jahrhundertelang der bevorzugte Umgang mit Bestand. Die Idee, ein Gebäude abzureißen, weil gewisse Teilaspekte davon gewissen Bedürfnissen nicht mehr entsprechen, während die Bausubstanz gesund und für viele weitere Jahre einsatzfähig wäre, stammt ebenfalls aus dem 20. Jahrhundert – und auch sie sollten wir wieder vergessen. Gerade Betontragwerke, die meist nur wenige Jahrzehnte alt sind, weisen durchaus Reserven auf, die man nutzen kann – vorausgesetzt ist ein Verständnis für den Bestand, sein Material und dessen Alter sowie die bevorzugte Einsatzweise. Hören wir auf und achten wir den Bestand, können wir mit ihm arbeiten, anstatt entwurfstechnisch buchstäblich mit dem Kopf resp. der Abrissbirne durch die Wand zu wollen (Bild 9).

Modulare Systeme kennen wir v. a. aus dem Stahl- und dem Holzbau, im Beton sind sie eher selten, ist doch das monolithische Vergießen eine seiner Stärken, gestalterisch wie auch technisch. Strukturen, die zusammengesteckt und wieder abgebaut werden können und vielfältig einsetzbar sind, gewinnen aber auch in Beton an Bedeutung. Die Lebensdauer unserer Tragwerke können wir generell schwer vorhersehen, da uns die erstellten Gebäude ja nicht gehören und wir somit keinen Einfluss auf die Zukunft unserer Werke haben. Die Frage nach der geplanten Dauer der Erstnutzung ist aber nicht unwichtig. Kann davon ausgegangen werden, dass die Erstnutzung langfristig angelegt ist, so lohnt es sich, das Tragwerk darauf zu optimieren. Ist die Erstnutzung allerdings nur für einige wenige Jahrzehnte gesichert, sind Redundanz und Reserve im System für weitere Nutzungen durchaus sinnvoll.

Wird ein Betontragwerk dann doch abgebrochen, wird der Beton in kleine Brocken gebrochen, bis das Granulat für Recyclingbeton oder als Straßenkoffer wiederverwendet werden kann. Die chemischen Reaktionen beim Zementbrand sowie der Betonerhärtung lassen sich derzeit nicht wieder rückgängig machen und so wird ein Material, das bei der Erstellung große Mengen an Energie benötigt und an CO2 freisetzt, nach wenigen Jahrzehnten geschrottet, ohne dass wir eine vernünftige Strategie besäßen, wie wir das Material zu gleicher Qualität und ohne zusätzliche Energieinvestition weiter nutzen könnten. Durch das Vergießen des Betons im Neubau ist eine Bauteiltrennung wie bspw. im Stahl- oder Holzbau hier nicht direkt möglich. Sofern wir sie nicht erhalten, müssen wir Betontragwerke also ein Stück weit zerstören resp. zerschneiden, um sie auseinandernehmen zu können. Die Frage ist, ob wir sie immer gleich zerbröseln müssen (Bild 10).

Betonplatten herauszuschneiden und wieder einzusetzen ist nicht ganz einfach, aber wenn gewisse Randbedingungen stimmen, auch nicht völlig unmöglich. Bauen mit Occasionmaterial, oder Re-use-Bauteilen, ist spannend und kann bisweilen nervenaufreibend sein, weil man nie genau weiß, was man bekommt. Eine Skelettstruktur aus Ortbeton oder Stahl kann bei kurzen Spannweiten zwischen den Trägern durch geschnittene Betonlatten aus Abbruchobjekten ausgefacht werden. Diese herausgeschnittenen und wieder eingesetzten Platten weisen verschiedene Stärken und Bewehrungsgehalte auf, der Gesamtentwurf fängt diese Schwankungen auf. Je größer die Bandbreite an Plattenstärken und Bewehrungsgehalten ist, um die Kräfte abtragen zu können, desto größer auch die Chance, dass die benötigten Platten rechtzeitig und lokal in der notwendigen Stückzahl beschafft werden können (Bild 11).

5 Und bei Stahl?

Bei Stahl liegen die Dinge wiederum anders. Die technologischen Lösungen für eine Produktion mit stark reduziertem CO2-Ausstoß, sowohl für Primär- wie auch für Recyclingstahl, sind zwar bekannt und in Testanlagen auch in Betrieb, allerdings noch nicht flächendeckend verfügbar. Aktuell sind die CO2-Fußabdrücke von Stahlbauteilen nur unter jenen Umständen konkurrenzfähig, in denen die beanspruchenden Kräfte so hoch werden, dass kein anderes Material unter effizientem Einsatz mithalten kann. Im Gegensatz zum Holzbau ist Stahl für die großen Spannweiten gemacht, die man hier auch unbedingt ausnutzen sollte. Kurz gespannte Stahltragwerke sind im Sinne nachhaltiger Tragwerke ebenso wenig sinnvoll wie lang gespannte Holztragwerke. Die großen Spannweiten können mit Sekundärträgern reduziert werden, die mit einzeln aus- und wieder einbaubaren Boden- und Wandflächen bestückt werden können, was zu sehr flexiblen Gebäuden führt, die von weitgespannten Hallen über Doppelgeschossigkeiten und Galerien bis zu kleinzelligen Unterteilungen alles beinhalten können und vielseitig umnutzbar und erweiterbar sind.

Daneben ist die Kreislauffähigkeit des Stahls seine große Stärke. Kein anderes Material erhalten wir in derart standardisierten und weltweit genormten Geometrien und Festigkeiten, sodass sie beinahe beliebig austauschbar und wieder einsetzbar sind. Bei Gebäuden, die nur temporär bestehen sollen, und dazu zähle ich auch die 40-jährige Nutzungsdauer, die für das Student Project House am Hönggerberg vorgesehen war (Bild 12), ist Stahl eine echte Alternative, verschraubbar und nach Ende der Nutzung auch wieder vollständig demontierbar und bereit für die neue Nutzung.

6 Schlussbemerkung

Der Entwurf von Tragwerken mithilfe von Ökobilanzen ist keineswegs eine Verkomplizierung, schon gar keine Einschränkung, sondern eine unglaubliche Bereicherung. Der Tragwerksentwurf wird vielseitiger und diverser, gleichzeitig erhält er eine Relevanz, die ihm im Zeitalter der unendlichen technischen Möglichkeiten etwas abhandengekommen ist.

Bei einem CO2-reduzierten Entwurf spielt das Tragwerk eine entscheidende Rolle und sollte nicht auf den städtebaulichen, räumlich programmatischen Entwurf folgen, sondern ihn begleiten und mit ihm interagieren. Wirklich gelungene Gesamtentwürfe entstehen nur, wenn Raum, Tragwerk und Material zusammenarbeiten und nicht das eine die Konsequenzen des anderen tragen muss.

Die gezeigten Tragwerksentwürfe, auch wenn sie nicht in diesen Projekten gebaut werden, sind dann nicht komplett für die Tonne gewesen, wenn wir sie diskutieren, weiterspinnen, verbessern und vielleicht in anderer Form und anderen Projekten eines Tages realisieren.

Der Vortrag ist verfügbar unter https://video.ethz.ch/speakers/lecture/
c825d7f3-6917-4c16-ab3c-35f1d8edd600.html
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Literatur

  1. Schweizerische Eidgenossenschaft, Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsorgane der öffentlichen Bauherren KBOB (2022) Ökobilanzdaten im Baubereich [online]. Bern: Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft. www.kbob.admin.ch/kbob/de/home/themen-leistungen/nachhaltiges-bauen/oekobilanzdaten_baubereich.html
  2. Eicke-Hennig, W. (2023) Holz reicht nicht für alles – Gastbeitrag [online]. Frankfurt am Main: Verband baugewerblicher Unternehmer Hessen e. V. https://bauwirtschaft-hessen.de/holz-reicht-nicht-fuer-alles
  3. Sobek, W. (2022) non nobis – über das Bauen in der Zukunft Band 1: Ausgehen muss man von dem, was ist. Stuttgart: AV Edition.
  4. WWF Deutschland (2022) Deutsche Kurzfassung der Studie Everything from Wood – The resource of the future or the next crisis? How footprints and targets can support a balanced bioeconomy transition [online]. Berlin: WWF Germany. wwf.de/everything-from-wood

Autor:in

Prof. Dr. Jacqueline Pauli, jpauli@ethz.ch
ETH Zürich, Architekturdepartement,
Institut für Technologie in der Architektur
www.ita.arch.ethz.ch
ZPF Ingenieure, Zürich
www.zpfing.ch


Prof. Dr. Jacqueline Pauli , Studium Bauingenieurwissenschaften EPF Lausanne und ETH Zürich; 2012 Promotion am Lehrstuhl von Prof. Dr. Fontana; seit 2013 Bauingenieurin bei ZPF Ingenieure; seit 2020 ­Leitung der ZPF Consulting AG Zürich; seit Dez. 2022 Prof. für Tragwerksentwurf ETH Zürich

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