Nachhaltigkeit quantitativ optimieren – aber warum nicht planungsbegleitend um Sinnfragen ergänzen?

Eine Antwort auf Alexander Rudolphis Erwiderung – Ein Korsett, das die Gestaltungsfreiheit einschränkt

Störend, ärgerlich, aber doch maximal nachhaltig? Ja, das ist möglich. Auch Bauwerke mit den höchsten Nachhaltigkeitsauszeichnungen wie DGNB Platin können für Nachbarschaften ein ästhetisches Ärgernis sein. Das dürfte für Laien in diesen Fragen erstaunlich sein. Denn was tragen „ärgerliche“ Bauwerke positiv zum sozialen Leben im Stadtteil bei? Welche Preisentwicklung ist für sie langfristig zu erwarten? Und ist Ökologie – die dritte Säule der Nachhaltigkeit – nicht im Kern eine Beziehungswissenschaft, in der es ganz wesentlich um Resonanz geht? Ja. Aber Zertifizierungen können solche Irritationen nicht ausschließen. Das würde vermutlich auch Alexander Rudolphi so sehen, Präsidiumsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB).

Seine Replik [1] auf meinen Übersichtsaufsatz Nachhaltig bauen ohne Atmosphäre? Ansätze für eine sensible Ergänzung professioneller Nachhaltigkeitsplanung [2] ist in vielen Punkten eine wertvolle Ergänzung. Zum Beispiel deshalb, weil Rudolphi darin die Widersprüchlichkeit der Zertifizierung thematisiert. Er stellt die Zertifizierungen in den Kontext der allgemeinen Ökonomisierung. Im Kern argumentiert er, eine Nachhaltigkeitszertifizierung bedeute nur eine Voraussetzung für nachhaltige Architektur, nicht deren Beweis.

Rudolphi schreibt: „Das Instrument der Nachhaltigkeitszertifizierung hat sich dagegen von Beginn an aus vielen wichtigen Gründen auf kategorisierbare, quantifizierbare und skalierbare Kriterien beschränkt – wohl wissend, dass damit allein die Voraussetzung für nachhaltiges Bauen geschaffen werden soll.“ Nachhaltigkeitszertifizierung sei bewusst auf die quantitativ messbaren Aspekte reduziert. Rudolphi nennt diesbezüglich als vergleichbare Kategorien: Statik, Bauphysik.

Mir unterstellt Rudolphi irrtümlicherweise einen Irrtum („wenngleich ich in den letzten Jahren feststellen musste, dass viele Kolleginnen und Kollegen diesen Irrtum teilen“). Woran mag das liegen, dass so viele Fachleute irren? Ein Nachhaltigkeitszertifikat ist eben doch etwas anderes als eine bauphysikalische Prüfung oder ein Statikgutachten. Projektentwickler, Kommunen oder Immobilienmakler schmücken sich mit den (für sie kostenaufwendigen) DGNB-Zertifikaten. Sie senden Social-Media-Posts, Pressemeldungen und heften sich die Platin-Siegel stolz auf die Immobilienprospekte – ihr gutes Recht.

Kommunikation hat immer eine Sender- und eine Empfängerseite. Man sollte von Empfängerinnen und Empfängern solcher Botschaften wie DGNB Gold nicht erwarten, dass sie annehmen, dass es sich dabei lediglich um eine Voraussetzung für nachhaltiges Bauen handelt. Sie erwarten soziale und ökologische Mehrwerte im messbaren und spürbaren Sinn. Von einem Bioland-Ei erwartet man als Supermarktkunde auch nachhaltige Landwirtschaft und nicht, dass damit abstrakte Voraussetzungen für nachhaltige Hühnerhaltung vorlägen.

Die Erwartungshaltung ist legitim. Nachhaltige Entwicklung ist letztlich ein politisches Kompromisskonzept. Die Staaten und ökonomischen Akteure müssten es in den vergangenen Jahren auf eine Reihe von messbaren Indikatoren herunterbrechen. Wirtschaft und Politik brauchen messbare Ziele, die ihrem Modus des Controlling angemessen sind. Das kritisiere ich nicht.

Der Technikphilosoph Armin Grunwald [3] spricht diesbezüglich von der Notwendigkeit, im unternehmerischen Nachhaltigkeits­mana­gement beide Ebenen zu berücksichtigen: die quantitative Kontrollierbarkeit, aber auch die Nachhaltigkeit als Bedeutungs­arbeit. Mein Aufsatz knüpft an diesen Gedanken an. Er versucht sich am Sowohl als auch. Von daher unterliegt Rudolphi selbst einem Irrtum, wenn er mir den „Wunsch“ unterstellt, „atmosphärische Wirkung und damit die nachhaltige Akzeptanz und Nutzbarkeit von Gebäuden als Teilkriterium in eine im Grundsatz quantitative, zumindest aber skalierbare Bewertungsstruktur zu integrieren“. Das wünsche ich ausdrücklich nicht. Stattdessen beschreibe ich ein Dilemma und benenne es als Akzeptanzproblem.

Ausdrücklich wäre nichts gewonnen, wenn die Ebenen der ­Mess­barkeit und der Bedeutungen (Sinn, Charakter, Schönheit) gegeneinander ausgespielt würden. Wie schon der Titel meines Auf­satzes sagt, mache ich Vorschläge für Ergänzungen im Planungsprozess größerer Bauprojekte (nicht: im Zertifizierungsprozess). Genannt sind Stakeholder-Dialoge im Rahmen unternehmerischer CSR-Strategien und Bürgergespräche mit dem Fokus auf Nachbarschaft und Atmosphären. Nachbarn sind große Experten für „atmosphärische Fragen“ der Angemessenheit, etwa: Was braucht ein Ort, was wäre ihm zu wünschen, wo sind die Grenzen?

Aber wenn es nun schon um die DGNB geht, erlaube ich mir, das Beispiel SOC 1.3 Schallschutz aus dem Bewertungskatalog zu zitieren: „Gute akustische Bedingungen sind eine wichtige Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit und die Behaglichkeit der Nutzer.“ Und ich frage: Bergen nicht Worte wie Behaglichkeit oder gut unabtrennbar qualitative Gehalte? Und ist andererseits nicht der Geist der Ökonomisierung hier unnötig überpräsent, indem die Leistungsfähigkeit der Gebäudenutzer als Grund für den Schallschutz genannt wird? Aber wird sie auch gemessen?

Zum Schluss ein versöhnliches Zitat. Es lautet: „Die nachhaltige Bewegung wird nur erfolgreich, wenn sie auch mit Schönheit und Ästhetik wahrnehmbar wird.“ Es stammt von Amandus Samsøe Sattler, dem Präsidenten der DGNB.


Literatur

  1. Rudolphi, A. (2024) Ein Korsett, das die Gestaltungsfreiheit einschränkt – Erwiderung auf den Beitrag von Jan Grossarth – Nachhaltig bauen ohne Atmosphäre? nbau Nachhaltig bauen 3, H. 2, S. 26–27.
  2. Grossarth, J. (2024) Nachhaltig bauen ohne Atmosphäre? Ansätze für eine sensible Ergänzung professioneller Nachhaltigkeitsplanung. nbau Nachhaltig bauen 3, H. 2, S. 18–25.
  3. Grunwald, A. (2023) Nachhaltigkeit zwischen Bedeutungsarbeit und Management in: Henkel, A. et al. [Hrsg.] Dilemmata der Nachhaltigkeit. Baden-Baden: Nomos, S. 261–278.

Autor:in

Jan Grossarth, grossarth@hochschule-bc.de
Hochschule Biberach
www.hochschule-biberach.de

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