Ein Korsett, das die Gestaltungsfreiheit ­einschränkt

Erwiderung auf den Beitrag von Jan Grossarth – Nachhaltig bauen ohne Atmosphäre?

Es ist ein Trend unserer rationalisierten Gesellschaft, nahezu alles und jedes quantifizieren, kategorisieren oder in anderer Weise rational begründen und einordnen zu wollen – sicherlich Folge einer durch und durch ökonomisierten Gesellschaft, die intuitive Entscheidung durch äußere Bewertung ersetzt. Ein bewusst quantitatives Bewertungssystem wie die Zertifizierung des nachhaltigen Bauens der DGNB in diesem Kontext und – wie dem Zitat der Architektin Shilpa Gore-Shah zu entnehmen – mit guter Architektur gleichzu­setzen ist jedoch falsch.

Der Irrtum der Fragestellung von Grossarth [1] liegt darin begründet, dass die Nachhaltigkeitsbewertung eines Bauwerks oder eines Lebensquartiers nicht das Ziel der Planung beschreibt, sondern eine Voraussetzung der Planung. Indem sich die modernen Kriterien einer Nachhaltigkeitsdefinition auf die quantifizierbaren ökologischen, ökonomischen und sozialen Wirkungen beschränkt, werden die Gestaltung, Schönheit, Angemessenheit, Eingliederung in die Umgebung und die psychosoziale Wirksamkeit bewusst ausgeklammert.

Die Aufgabe, ein in diesem Sinne nachhaltiges Gebäude zu schaffen, wird damit auf eine Ebene mit anderen technischen Rahmenbedingungen wie der Statik oder der Bauphysik gestellt. Auch dort werden Voraussetzungen und Bedingungen benannt, ohne damit den Anspruch zu erheben, die Angemessenheit des Nutzwerts, die Sinnhaftigkeit oder die mehr oder weniger zeitlose Gestaltqualität eines Gebäudes zu bestimmen.

Insofern bleibt es die Aufgabe der Architektur, ebendiese Qualitäten auf Grundlage oder trotz der immer komplexer werdenden technischen Rahmenbedingungen und Anforderungen zu realisieren. Das war schon immer so – was heute ein Wärmedurchgangswiderstand oder die Klimawirkung eines Materials ist, war früher vielleicht die regionale Verfügbarkeit oder technische Formbarkeit unterschiedlicher Materialien.

Der Autor unterstellt als Grundlage seiner Kritik eine Behauptung, die vonseiten der Akteure der Nachhaltigkeitsbewertung mit Absicht und bewusst nicht erhoben wurde – wenngleich ich in den letzten Jahren feststellen musste, dass viele Kolleginnen und Kollegen diesen Irrtum teilen.

Insofern ist die architektonische Gestaltung (oder Antwort) eine kreative Leistung, deren Ergebnis sich nicht mit Algorithmen quantifizieren oder mit Zielgrößen versehen lässt. Und genau deswegen gibt es Wettbewerbskommissionen, mit denen weiche Kriterien wie Gestaltung, Angemessenheit, Schönheit, Stimmigkeit institutionalisiert und damit auch in unserer durchrationalisierten Gesellschaft als Entscheidungsgrundlage akzeptiert werden. Ein hohes Gut, das nicht demontiert werden sollte.

Natürlich bestimmen diese Kriterien – der Autor des Beitrags fasst sie zusammen mit Begriffen wie atmosphärische Wirkung oder Gemütswerte – die Akzeptanz, die Nutzbarkeit und damit die Langlebigkeit eines Bauwerks. Jedoch gilt zumindest für die heutigen technischen Planungs- und Umsetzungsprozesse, wie der Autor an anderer Stelle richtig feststellt: „Atmosphären sind wegen der Vielschichtigkeit ihrer Gründe weder planbar noch machbar; […] Die Feststellung der prinzipiellen Nichtsteuerbarkeit muss unbefriedigend bleiben; eine Implementierung in linearen Management- und Planungsmethoden ist unmöglich.“

Das Wunschziel des Autors nach einer Integration atmosphärischer Kriterien in die Nachhaltigkeitsbewertung ist nachvollziehbar und seit Jahren Thema und Gegenstand von Diskussionen in der DGNB. Es enthält jedoch einen – nicht genannten – inneren Widerspruch. Die aufgezählten Attribute von Bauwerken, die persönliche Wirkung oder – zusammengefasst – die individuelle Akzeptanz eines Bauwerks unterliegt womöglich zeitlosen Konstanten wie etwa der Schutzwirkung geschlossener kleinteiliger Außenräume (was die Licht-, Luft- und Sonne-Theorie von Großsiedlungen der 1960er- und 70er-Jahre ignorierte), der emotionalen Bedeutung von Stadtgrün oder der Wahrnehmung farblich und räumlich mehr oder weniger strukturierter Fassaden.

Überwiegend jedoch hängt sie ab von zeitlich veränderbaren gesellschaftlichen Erwartungen, wirtschaftlichen Möglichkeiten und Bedürfnissen oder technologischen Entwicklungen – also vom jeweils bestehenden kulturellen Rahmen. Wie schnell sich dies verändern kann, zeigt z. B. die Bewertung der Wohnqualität in den industriellen Großwohnungsbauten der ehemaligen DDR nach der Fertigstellung in den 1960er- und 70er-Jahren einerseits und in den 1990er-Jahren andererseits. Den Satz Jede Zeit hat ihre Bauten kann man eindrücklich z. B. auf dem Berliner Breidscheidtplatz nachvollziehen: Franz Schwechten neben Egon Eiermann neben Hans Poelzig neben Jürgen Engel – drei Jahrhunderte.

Diese zeitliche Abhängigkeit wird besonders deutlich bei der Forderung nach einer (dringend notwendigen) Suffizienz-Diskussion im Kontext des nachhaltigen Bauens. Kritisiert man die heutigen nicht zukunftsfähigen Flächen-, Ressourcen- und Energieverbräuche in den Industrieländern, werden dagegen die sog. soziokulturell gewachsenen Standards ins Feld geführt. Dahinter steht eine Erwartungshaltung, die – von Psychologen auch als Anpassung beschrieben – hohe Qualitäten nicht mehr als positiven Gewinn an Lebensqualität, sondern als selbstverständliche Voraussetzung wahrnimmt. Dies wird auch deutlich, wenn man die sehr unterschiedliche positive Qualitäts- oder Glückswahrnehmung in unterschiedlich entwickelten Ländern – selbst in unterschiedlichen Ländern mit gleicher Entwicklungsstufe – betrachtet.

All das stellt die Rahmenbedingungen und ist Gegenstand der Architektur.

Das Instrument der Nachhaltigkeitszertifizierung hat sich dagegen von Beginn an aus vielen wichtigen Gründen auf kategorisierbare, quantifizierbare und skalierbare Kriterien beschränkt – wohl wissend, dass damit allein die Voraussetzung für nachhaltiges Bauen geschaffen werden soll. Grund dafür war, dass – wie der Autor ebenfalls feststellt – die atmosphärische Wirkung zeitabhängig, subjektiv und nicht messbar ist. Das bedeutete jedoch keinesfalls, dass die Frage der Gestaltung – der Baukultur – nicht ernst genommen worden wäre.

Es ist wie bei der Bewertung von Materialien: kein Baustoff ist an sich ökologisch oder nachhaltig, sondern nur Art, Menge und Zweckdienlichkeit seiner Verwendung im Bauteil. Wenn also in der Tat „Bauwerke oder Bauprojekte, die mit dem Goldstandard DGNB Platin besiegelt sind, […] als ästhetisches oder architektonisches Ärgernis wahrgenommen werden“, dann hat jemand mit guten Grundlagen etwas Schlechtes geschaffen – dafür gibt es viele Beispiele.

Das vom Autor angeführte Beispiel der Funktion der Besonnung im Gebäude ist entsprechend wohlfeil. Das Sonnenlicht muss erst mal da sein, um etwas mit ihm machen zu können – entweder etwas Schönes oder etwas, was zu warm ist oder blendet. Die Nachhaltigkeitszertifizierung prüft zunächst mal das Erstere, eben weil sie um die wichtige Bedeutung und Schönheit von Sonnenlicht bei richtiger Planung weiß. Wenn eine der Anforderungen im System tatsächlich aus dem methodischen Rahmen fällt, wäre es allenfalls die Ausstattungsqualität.

Fazit: Der Wunsch, die atmosphärische Wirkung und damit die nachhaltige Akzeptanz und Nutzbarkeit von Gebäuden als Teilkriterium in eine im Grundsatz quantitative, zumindest aber skalierbare Bewertungsstruktur zu integrieren, ist falsch und tut der Architektur nichts Gutes. Es wäre vermutlich ein Korsett, das die Gestaltungsfreiheit und -möglichkeiten wie auch immer einschränkt.

Die Aufteilung in eine quantitative Bewertung einer Planung als Voraussetzung für deren Nachhaltigkeit einerseits und eine qualitative Bewertung des Planungsergebnisses auf der Grundlage der individuellen emotionalen und ästhetischen Wahrnehmung von Personen als Juroren andererseits sollte schon allein deshalb erhalten bleiben, damit keine Seite unzulässig eingeschränkt wird. Lieber sollte die gesellschaftliche Rolle von Wettbewerben, Gestaltungsbeiräten oder die Nutzerpartizipation gestärkt werden.

Deshalb gibt es den Diamanten oder den Nachhaltigkeitspreis für Architektur bei der DGNB (Bilder 1, 2).


Literatur

  1. Grossarth, J. (2024) Nachhaltig bauen ohne Atmosphäre? nbau. Nachhaltig Bauen 3, H. 2, S. 18–25. www.nbau.org/2024/04/19/nachhaltig-bauen-ohne-atmosphaere

Autor:in

Alexander Rudolphi, ar@rudolphi-rudolphi.com
Mitglied im Präsidium der DGNB
www.dgnb.de

Jobs

ähnliche Beiträge

Die Erderwärmung ist greifbar

Climate Pulse: globale Klimadaten in Beinahe-Echtzeit.

Die Wärmewende braucht zusätzliche Fachkräfte

Wie die Wärmewende gelingt: Sieben Thesen von der Gebäude-Allianz.

Nicht viel Neues im Klimamanifest

Erwiderung auf das Manifest für einen Kurswechsel in der Klimapolitik für den Gebäudesektor (Klimamanifest).