Back to the future – von der Vergangenheit lernen
HORTUS in Allschwil bei Basel ist ein Leuchtturmprojekt der Nachhaltigkeit. Ein zukunftsorientierter Investor, ein bekanntes Architekturbüro und ein innovatives Ingenieurbüro haben für dieses Bürogebäude gemeinsam ein Konzept entwickelt, das darauf abzielt, bereits nach rd. 30 Jahren eine energiepositive Bilanz auszuweisen. Dies heißt, dass das Gebäude die für seine Erstellung benötigte (graue) Energie innerhalb einer Generation durch die hauseigene, regenerative Energiegewinnung mittels Photovoltaik (PVA) zurückzahlen wird. Der Weg führt über den Einsatz von traditionellen, regional vorhandenen Naturmaterialien, die in einem spezifisch entwickelten Konstruktionsverfahren neu interpretiert werden. Zentrales Element der Konstruktion sind neuartige Holz-Lehm-Decken. Sie wirken sich nicht bloß günstig auf die ökologische Gesamtbilanz aus, sie leisten auch einen wichtigen Beitrag zum Wohlbefinden der künftigen Nutzerinnen und Nutzer.
1 Einleitung
HORTUS ist das lateinische Wort für Garten. Bei diesem Projekt hat es als Akronym eine weitere Bedeutung. Es steht für House Of Research Technology Utopia and Sustainability – Haus der Forschung, Technologie, Utopie und Nachhaltigkeit. Hinter dem Projekt stehen drei Schweizer Unternehmen: die Entwicklerin Senn Resources AG aus St. Gallen, das renommierte, weltweit tätige Architekturbüro Herzog & de Meuron aus Basel und ZPF Ingenieure als Tragwerksplaner, ebenfalls aus Basel. Das Team von Lehm Ton Erde um Martin Rauch aus Schlins unterstützte zudem in der Frühphase des Projekts mit seiner Lehmbauexpertise. HORTUS, aktuell im Bau, geplante Fertigstellung Ende 2024, wird Teil von BaseLink, einem neuen Gewerbegebiet in der Vorortgemeinde Allschwil, das sich direkt an der Landesgrenze zwischen der Schweiz und Frankreich entlangzieht. BaseLink bezeichnet sich als Ökosystem für die Life-Science- und Biotech-Branche, für Start-ups und seine Forscherinnen und Forscher (Bild 1).
Eine Gesamtnutzfläche von knapp 13.000 m2 verteilt sich in dem nicht unterkellerten Gebäude auf fünf Geschosse, die einen begrünten Innenhof mit einem natürlichen Biotop einfassen. Auf die Mietparteien warten bezugsbereite Flächen. Außerdem haben sie Anteil an Gemeinschaftsbereichen auf den betreffenden Geschossen. Das Eingangsgeschoss wird als große, von der Betreiberin aktiv bediente Begegnungszone konzipiert. Dort wird auch ein hauseigenes Café ohne Konsumationspflicht eingerichtet. Das angewendete Nutzungsprinzip lautet: Access over Ownership, was auf Deutsch so viel heißt wie Nutzen statt Besitzen.
Zum Basisangebot für die bezugsbereit mietbaren Flächen gehören die Raumoberflächen, die Grundversorgung mit Kunstlicht, Lüftung, Heizung, Kühlung, ein adäquater Schallschutz sowie Anschlüsse von elektrischem Strom und LAN für jeweils 10 m². Die Ausstattung und die Versorgung des Gebäudes orientieren sich vollständig an den folgenden drei Nachhaltigkeitszielen, die auch für die Baustruktur gelten:
- geringstmöglicher Energieverbrauch, sowohl in der Erstellung als auch im Betrieb – die Zielwerte des Effizienzpfads Energie (SIA 2040) für Bürogebäude werden nicht nur eingehalten, sondern deutlich unterschritten,
- höchstmögliche Wiederverwend- und einfache Rückbaubarkeit der Materialien nach dem Prinzip des Design for Disassembly und
- die eingangs genannte energiepositive Bilanz nach rd. 30 Jahren Betrieb.
HORTUS will kein Luxus-Ökobau sein. Fakt ist, dass die Ansätze des nachhaltigen Bauens zur Erreichung der Klimaziele (Europäisches Klimagesetz, Netto-Null bis 2050) auch über die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit der eingesetzten Systeme in die Breite getragen werden müssen, um eine entsprechende Hebelwirkung zu erzielen. Einzelne Leuchtturmprojekte begeistern Fachleute und Laien gleichermaßen, regen zur Nachahmung an und sensibilisieren unsere Gesellschaft für die Problematik im Allgemeinen. Als Einzelobjekte sind sie jedoch nicht in der Lage, einen nominell spürbaren positiven Effekt auf die Treibhausgasemissionen zu erzielen.
2 Umkehr des Planungsprozesses
Eine wesentliche Erkenntnis aus HORTUS ist auch die Notwendigkeit, den Planungsprozess umzukehren: Der Gedanke der ökologischen Nachhaltigkeit muss zwingend bereits in der frühesten Projektphase berücksichtigt werden und nicht erst, wenn eine städtebauliche und darauffolgende gebäudetypologische Studie bereits abgeschlossen ist. Denn werden die Weichen zu spät gestellt, ist – analog zur Ökonomie eines Projekts – nur noch Schadensbegrenzung möglich. Ein zu spät in das Projekt eingebrachter Gedanke hat insbesondere bei der ökologischen Nachhaltigkeit oft keinen nennenswerten Einfluss mehr auf die Gesamtbilanz. Es ist daher unumgänglich, gewohnte Planungsabläufe zu überdenken und die Ökologie als wesentlichen Grundbaustein bereits in die Zielformulierung des Projekts zu integrieren. Bei HORTUS ging der Weg daher vom Material über die Konstruktion zum Gebäude.
3 Holz-Lehm-Decke als Kernelement
Für Bauschaffende im Allgemeinen und für Tragwerksplanende im Besonderen stellt die Entwicklung nachhaltiger Gebäude und Strukturen nicht nur eine Verpflichtung dar, sondern auch eine enorme Chance: Die von der Tragwerksplanung mitgeplanten Elemente sind i. d. R. in Summe für ca. 60 % des CO2-Fußabdrucks eines Gebäudes verantwortlich [1]. Der Anteil des Ausstoßes der Geschossdecken am gesamten Tragwerk beträgt knapp 40 % [2]. Dies verdeutlicht, dass es sich lohnt, gerade diese Bauteile zu optimieren, um einen möglichst großen Effekt auf die Gesamtbilanz zu erzielen.
Der im Projekt HORTUS durchgeführte detaillierte Vergleich verschiedener Deckensysteme zeigt, was in Ingenieurkreisen ohnehin bekannt ist: Statisch sinnvolle Bauteilquerschnitte führen zu effizienten Tragwerken (Bild 2). Die lange Zeit und auch heute noch aus Kosten- und Einfachheitsgründen viel zu oft eingesetzte Betonflachdecke ist weder effizient noch leicht rückbaubar und erzeugt einen sehr großen CO2-Fußabdruck. Generell sollten Materialien so eingesetzt werden, dass sich ihre Eigenschaftsvorteile bestmöglich entfalten können. Eine dogmatische Verurteilung einzelner Materialien ist nicht zielführend.
Die bei HORTUS in Zusammenarbeit von ZPF und Herzog & de Meuron konzipierte Holz-Lehm-Decke kann als moderne Interpretation einer klassischen Kappen- oder Hourdisdecke verstanden werden. Die Decke, bei der vor Ort aus dem Aushub gewonnener Lehm zwischen die Holzbalken aus reinem Schnittholz gestampft wird, weist eine hervorragende Ökobilanz auf und erfüllt in Kombination mit dem gewählten Bodenaufbau alle Anforderungen an ein Deckensystem für einen Bürobau. Die Masse des Lehms egalisiert einen häufigen Nachteil von Holzbalkendecken: Holz ist zwar aufgrund seines geringen Eigengewichts ein sehr effizienter Baustoff mit hoher Tragfähigkeit, aber aus diesem Grund erfüllen Holzdecken die geforderten Schallschutzwerte oft nur mit zusätzlichen Maßnahmen. In der Regel in Form von beschwerenden Schüttungen, die auf die Decke oder zwischen die Balken auf einen Blindboden aufgebracht werden. Durch die bei der Holz-Lehm-Decke bewusste Anordnung des selbsttragenden Lehms an deren Unterseite fungiert dieser nicht nur als seitlicher Brandschutz für das Holz, sondern auch als thermische Masse im Sinne eines passiven Systems über die Nachtauskühlung. Von Transsolar Klima Engineering bereits durchgeführte Simulationen anhand eines Projektbeispiels haben gezeigt, dass die temperaturregulierenden Eigenschaften bezüglich Wärmespeicherung im Sinne des sommerlichen Wärmeschutzes der Decke gleichwertig zu einer klassischen Holz-Beton-Verbunddecke (HBV) und besser als alleinige Systeme aus Holz sind. Ein weiteres Plus ist, dass die thermische Masse als (Stampf-)Lehm in den Decken verortet typischerweise mehr Fläche generiert als einzelne Wände – und daher auch einen deutlich größeren Wirkungsgrad erzielt. Eine hervorragende Feuchteregulierung komplettiert die positiven Eigenschaften der erdgestampften Kappendecke.
Bei HORTUS wird der Lehm in Form eines Gewölbes eingebracht und folgt damit dem o. g. Grundprinzip, Materialien ihren Eigenschaften entsprechend einzusetzen und Bauteile aus dieser Logik heraus effizient und nachhaltig zu konstruieren. Der Lehm trägt die Lasten analog zu einer gemauerten Bogenbrücke über reine Druckkräfte ab. Für das Material ungünstige Zug- oder Schubkräfte werden vollständig vermieden. Der fast intuitiv erfahrbare Kraftfluss wird ablesbar und ist bewusst Teil des gestalterischen Ausdrucks (Bild 3).
Um ein seitliches Ausweichen der schlankeren Randträger insbesondere im Bauzustand zu verhindern, wird in den Drittelpunkten des Systems ein Zugband angeordnet. Dieses schließt den Horizontalschub aus der Bogenwirkung innerhalb eines Elements kurz. Entgegen der Annahme, dass aus Nachhaltigkeitsgründen hierfür wiederum Holz die richtige Wahl sein müsse, zeigt die vertiefte Untersuchung, dass ein Zugglied aus Stahl einen niedrigeren CO2-Ausstoß verursacht. Der Grund liegt nicht nur in der deutlich höheren Zugfestigkeit des Stahls und einem damit verbundenen, um ein Vielfaches kleineren Querschnitt, sondern auch im Detail: Aufgrund der einzuhaltenden Randabstände der Verbindungsmittel würde der Holzquerschnitt ausschließlich wegen des Knotenpunkts unverhältnismäßig groß – und ohne Staffelung bzw. variable (Verschnitt erzeugende) Querschnittsgestaltung daher schlechter in der Ökobilanzierung als der filigrane Stahlgewindestab (Bild 4). Dieses Prinzip der exakten Gegenüberstellung der Auswirkungen auf die ökologische Nachhaltigkeit bei Änderungen von Bauteilen oder der eingesetzten Materialien wurde bei HORTUS allumfassend angewandt.
4 Brandschutzaspekte
Neue konstruktive Systeme wie die Holz-Lehm-Decke müssen natürlich auch die durch lokale Richtlinien und Normen vorgegebenen Sicherheits- und Schutzziele erfüllen. Bei der Entwicklung von neuen Systemen wird hierdurch häufig der Elan der Projektteams gebremst, welche sich an ein innovatives Experiment wagen möchten. Die Schweiz erweist sich in dieser Hinsicht im europäischen Vergleich als erfrischend liberal; der bemessende Ingenieur trägt die Verantwortung für das Tragsystem. Mithilfe von Experimenten und Bauteilprüfungen werden häufig Grundlagen für Bemessungen gelegt. Behörden beurteilen die Bemessungsgrundlagen und sind aufgeschlossen gegenüber Innovationen im Bauwesen. Dies verringert den administrativen Aufwand erheblich und fördert die Innovationskultur. Wenn Bauherrschaft, Architekturbüro, Fachplanungsteams und Behörden am selben Strang ziehen, ist zu erwarten, dass sich der Zeithorizont bis zur praktischen Umsetzung des Experimentes deutlich reduziert und sich die Markteinführung erheblich beschleunigt. Die Schweiz bietet daher hervorragende Voraussetzungen für Innovationen im Bauwesen.
Die einzige Prüfung, welcher sich das Holz-Lehm-Deckenelement im Bewilligungsverfahren unterziehen musste, betraf den Brandschutz. Zum Erbringen der nötigen Nachweise suchte das Planungsteam den Kontakt zur Firma IGNIS – Fire Design Consulting. Dieses Spin-off der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) besitzt große Erfahrung bei Brandprüfungen und leistungsbasierter Nachweisführung im Brandschutz von Holzbauten. IGNIS hat einen Prüfkörper konzipiert, mit dem in einer Brandprüfung die wichtigen Parameter des Deckensystems untersucht wurden und auf dessen Grundlage der Feuerwiderstand klassifiziert werden konnte. Eine Brandprüfung war notwendig, da für die Konstruktion des Deckenelements kein anerkannter Stand der Technik angewendet werden konnte.
Konkret wurde geprüft, ob der anvisierte Feuerwiderstand der Deckenkonstruktion dem Wert REI 60 entspricht. Dieser verlangt, dass die Decke während 60 min Standard-ISO-Normbrandeinwirkung (auf Grundlage von EN1363-1 und EN 1365-2) auftretende Lasten zu tragen vermag. Zudem muss die Decke für 60 min den Raumabschluss (EI) gewährleisten; es darf keinen Rauch oder Flammendurchtritt geben und der Temperaturanstieg auf der brandabgewandten Seite darf nicht größer als 140 °C sein. Untersucht wurden auch mögliche Langzeitveränderungen der Deckenkonstruktion infolge von möglichen Feuchteänderungen im Holz oder des Lehmgewölbes. Denn der Feuerwiderstand der Deckenkonstruktion muss über die gesamte Lebensdauer der Gebäude sichergestellt sein. Hierzu wurde bspw. auch der Einfluss einer Fuge zwischen Lehmgewölbe und Sekundärträger auf das Abbrandverhalten genauer untersucht.
Für die Prüfung der einzelnen Elemente der Holz-Lehm-Decke kam ein Vorgehen zum Einsatz, das IGNIS als Smart Testing bezeichnet: Während einer Brandprüfung wurden mithilfe von Thermoelementen die Temperaturen an ausgewählten Positionen im Prüfkörper gemessen (Bild 5). Nachher fanden eine Analyse der Prüfkörper und eine Ausmessung ausgewählter Restquerschnitte der Holzbauteile statt. Hierdurch konnte der Abbrand der Konstruktion über die Branddauer dokumentiert werden. Nach der Brandprüfung ließ sich der Querschnitt nach 60 min Brandbeanspruchung exakt ausmessen und die gemittelten Abbrandraten über diese Zeitdauer eruieren. Diese Auswertung wurde für alle Bauteile der Konstruktion gemacht und in einem Klassifizierungsbericht dokumentiert.
Beim IBS – Institut für Brandschutztechnik und Sicherheitsforschung in Linz fand eine großmaßstäbliche Brandprüfung des Deckenelements mit Belastung (4-Punkt-Biegeeinrichtung) statt. Der Feuerwiderstand REI 60 wurde erreicht. Der Brandversuch wurde auf eine definierte Nutzlast von 500 kg/m2 ausgelegt (im Brandfall multipliziert mit dem entsprechenden Teilsicherheitsbeiwert). Dies entspricht der mit der Bauherrschaft vereinbarten Nutzlast des HORTUS, obwohl dieser als reiner Bürobau auf lediglich 300 kg/m2 auszulegen wäre. Grund hierfür ist die gewünschte Flexibilität, die in Zukunft auch Nutzungen mit höheren Lasten ermöglichen soll. Auch dies ist unter der Voraussetzung einer verhältnismäßigen Anwendung und dem Gedanken der Suffizienz wiederum ein Prinzip der Nachhaltigkeit, welches dem Gebäude eine möglichst lange Lebensdauer ermöglicht. Das Lehmgewölbe fiel bei diesem Test nicht aus der Konstruktion, es erlitt auch keine Abplatzungen. Bis zum Ende der Brandprüfung konnte es die Sekundärträger seitlich im Kontaktbereich vor einem Abbrand schützen. Diese schützende Wirkung des Lehmbogens ist hinsichtlich des Brandschutzes als sehr positiv zu bewerten (Bild 6).
Die Deckenkonstruktion kann auf Grundlage der Brandprüfung sowie der erfolgten Klassifizierung bei Gebäuden mit einem maximalen Feuerwiderstand von 60 min (hochfeuerhemmend) eingesetzt werden. Beispielhaft sei an dieser Stelle konkret die Anwendung in Deutschland und in der Schweiz aufgeführt. In Deutschland sind dies Gebäude bis einschließlich Gebäudeklasse 4 (GK 4). In der Schweiz kann die Decke in einem Löschanlagenkonzept auch bei einem Hochhaus bis 100 m Höhe eingesetzt werden, wobei dann eventuelle Anforderungen an das Brandverhalten der Sekundärträger zu berücksichtigen sind. Es ist zu empfehlen, dass bei einer Anwendung bei einem konkreten Vorhaben in diesen beiden Ländern das Projektteam frühzeitig die rechtlichen und behördlichen Vorgaben abklärt und prüft, ob eine gutachterliche Stellungnahme eines anerkannten Gutachters notwendig ist. Die bisher gewonnenen Erfahrungen zeigen, dass ein Einsatz der Decke eine reine Formalie ist, die z. B. in Deutschland mit der Beantragung einer vorhabenbezogenen Bauartgenehmigung (vBg) oder über eine Zustimmung für die Anwendung im Einzelfall (ZiE) adressiert werden kann. In der Schweiz kann die Anwendung der Deckenkonstruktion in Zusammenarbeit mit einem anerkannten Gutachter der VKF (Vereinigung Kantonaler Gebäudeversicherungen) ermöglicht werden. Für Deutschland ist geplant, die Holz-Lehm-Decke im Rahmen einer allgemeinen Bauartgenehmigung (aBg) zuzulassen. Abklärungen hierfür sind im Gange.
5 Industrielle Vorfabrikation der Holz-Lehm-Decke
Zur Erreichung der Klimaziele ist es essenziell, dass die Bauwirtschaft nachhaltige und skalierbare Lösungen anbietet. Das aus dem Projekt HORTUS hervorgegangene Start-up Rematter hat sich ebendies zur Aufgabe gemacht. Damit erfüllt es auch eines der o. g. Projektziele, nämlich Ansätze des nachhaltigen Bauens in die Breite zu tragen, denn die Deckenelemente sollen zukünftig auch jenseits von HORTUS bei Bauprojekten zur Anwendung kommen. Konkret beschäftigt sich das Unternehmen mit der Weiterentwicklung und Optimierung des Deckensystems und der Anpassung für weitere Anwendungsfelder. Neben Schul- und Bürobauten besteht v. a. im Wohnungsbau ein großes Potenzial für die Holz-Lehm-Decken, da die herkömmlichen Spannweiten bei Letzterem einen besonders effizienten Materialeinsatz erlauben. Parallel wird eine Automatisierungsstraße aufgebaut, die eine industrielle Vorfertigung der Holz-Lehm-Decke ermöglicht.
Die Fertigungsschritte beginnen mit der Erstellung des Rahmens mit den Holzträgern und der Dreischichtplatte. In diese verlorene Schalung wird der Lehm eingebracht und verdichtet. Die automatisierte Fertigung erlaubt v. a. eine sehr effiziente Verarbeitung des Stampflehms (Bild 7a). Damit wird eines der größten Hindernisse für die Anwendung dieser jahrtausendealten Konstruktionsweise in der heutigen Zeit gelöst, nämlich die hohen Herstellungskosten, welche sich aus dem sehr zeitaufwendigen manuellen Verdichtungsprozess ergeben. Beim Prototyp für die durchgeführte Brandprüfung, welcher von den Stampflehmexperten Lehm Ton Erde durch Martin Rauch und dessen Team gebaut wurde, erfolgte dieser Schritt noch im traditionellen manuellen Verfahren mit einem herkömmlichen handgeführten Verdichter. Für die Montage wird das Element um 180° gedreht und kann dann mit unterschiedlichen Bodenaufbauten versehen werden. Beim Projekt HORTUS kommen Holzfaserplatten (40 mm), Ölpapier und Sandschüttung (30 mm) sowie Eichendielen (20 mm) zum Einsatz.
Die industrielle Produktion ermöglicht einen Skaleneffekt. Dies ist wichtig, denn schlussendlich zählen in der Bauwirtschaft nicht nur die überaus positiven ökologischen und raumklimatischen Eigenschaften des Deckensystems. Darüber hinaus bestimmt der Preis, ob ein Bauprodukt breite Anwendung findet und sich erfolgreich im Markt behaupten kann. Ziel ist es, durch einen konkurrenzfähigen Preis weniger nachhaltige Deckensysteme – wenn immer möglich – durch deutlich ökologischere Varianten wie die Holz-Lehm-Decke zu ersetzen (Bild 7b).
Derzeit wird eine erste Fertigungsstraße für Holz-Lehm-Deckenelemente aufgebaut. Erste Deckenelemente für ein Mehrfamilienhaus befinden sich bereits in der Fertigung.
6 Ecotool unterstützt Materialwahl und Bilanzierung
Nachhaltige Bauelemente wie die Holz-Lehm-Decke und Projekte wie HORTUS ganz allgemein bedürfen einer sorgfältigen Vorbereitung. Jedes Element muss auf seine Auswirkung in der Ökobilanz überprüft werden. Da diese Aufgabe viel Zeit beansprucht und systematisch bewältigt werden sollte, wurde bereits in der frühesten Phase ein Tool entwickelt, welches Auswirkungen von Änderungen z. B. von Materialien oder Systemaufbauten von ganzen Bauteilen unmittelbar hinsichtlich der Ökobilanz quantifiziert. Diese erste Excel-basierte Version des Ökobilanz-Tools wurde genutzt, um mögliche Wand- und Deckenkonstruktionen für das Projekt HORTUS zu evaluieren und zu vergleichen. Zuerst für interne Zwecke vorgesehen, stieß das Tool auch außerhalb des Planungsunternehmens auf großes Interesse. So wurde bei ZPF Ingenieure in Kooperation mit Immobilien Basel-Stadt und der Dienststelle Städtebau und Architektur des Kantons Basel-Stadt auf der zuvor geschaffenen Basis das EcoTool entwickelt, das heute webbasiert via www.ecotool.org kostenlos genutzt werden kann.
Das Tool ist einfach und zeitsparend anzuwenden. Bereits mit wenigen Eingaben aus Decken-, Wand- und Fassadenschnitten können Planende sowie Bauherren und ihre Vertretungen Entwürfe in Bezug auf ihre Ökobilanz vergleichen (Bild 8) und zudem ins Verhältnis zu den Kosten setzen. Wie bei einer ersten Kostenkalkulation liegt die Genauigkeit der Berechnung bei +/– 20 %. Dass für eine derart solide Berechnung lediglich Bodenplatte, Wände, Decken und Fassaden sowie Dach detailliert erfasst werden müssen, mag zunächst überraschen. Doch sind dies die Bauteile, die i. d. R. den Großteil der Umweltbelastung im Hochbau ausmachen und daher für eine Einschätzung ausreichen, ob das Projekt im Hinblick auf seine ökologische Nachhaltigkeit auf dem richtigen Weg ist.
EcoTool besteht aus drei aufeinanderfolgenden Bausteinen: Bauteiloptimierung hinsichtlich CO2-Ausstoß, Gebäudeoptimierung mit den spezifischen Flächenmaßen (Bild 9) und Abschätzung der Betriebsenergie. Die App bedient sich der aufgearbeiteten und aggregierten Werte der Ökobilanzdaten im Baubereich der Schweizerischen Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsorgane der öffentlichen Bauherren KBOB. Basierend auf diesen Werten und in Anlehnung an die SIA 2032 wird die Umweltbelastung für die maßgebenden Bauteile berechnet. Die Haustechnik wird anhand von Referenzwerten berücksichtigt, die Betriebsenergie auf Basis der Normenreihe SIA 380 abgeschätzt. Den Anwenderinnen und Anwendern bleibt die Aufgabe erspart, die anerkannten Werte für die entsprechenden Bauteile selbst zusammenzutragen. Das Tool wird laufend weiterentwickelt. Bald können Re-Use-Elemente integriert und auch mit Bauteilen aus dem Bestandsbau bilanziert werden. Bauherrschaften wird für Wettbewerbe ein Dashboard zur Verfügung gestellt werden, über welches Gebäude-Ökobilanzen eingereicht und nach definierten Kriterien verglichen werden können.
Literatur
- SIA 2032 (2010) Graue Energie – Ökobilanzierung für die Erstellung von Gebäuden. Zürich: Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein.
- Weidner, S.; Mrzigod, A.; Bechmann, R.; Sobek, W. (2021) Graue Emissionen im Bauwesen – Bestandsaufnahme und Optimierungsstrategien. Beton- und Stahlbetonbau 116, H. 12, S. 969–977. https://doi.org/10.1002/best.202100065
Autor:innen
Tobias Huber, t.huber@zpfing.ch
Katja Fiebrandt, k.fiebrandt@zpfing.ch
Oliver Kirschbaum, o.kirschbaum@zpfing.ch
ZPF Ingenieure, Basel
www.zpfing.ch
Dr. sc. ETH Michael Klippel,
klippel@ignis-consulting.eu
IGNIS Fire-Design-Consulting, Zürich
www.ignis-consulting.eu
Dr. Tobias Bonwetsch, bonwetsch@rematter.earth
Götz Hilber, hilber@rematter.earth
Rematter AG, Zürich
www.rematter.earth