Im Gespräch mit Michael Braungart

Cradle to Cradle – ökoeffektiv statt nur effizient

Michael Braungart ist Umweltchemiker und hat zusammen mit dem Architekten William McDonough das Cradle-to-Cradle-Konzept entwickelt. Das übliche Umweltschutz-Credo will durch reduce, reuse und recycle mit Weniger mehr erreichen. Damit wird nur das Falsche verbessert, nicht aber etwas Positives geschaffen. Mit Cradle to Cradle können wir stattdessen überlegen, was gut für uns und unsere Umwelt ist, also ökoeffektiv statt nur effizient sein. Bernhard Hauke hat mit Michael Braungart über Cradle to Cradle und das Bauen gesprochen.

Cradle to Cradle gilt als eine der Grundideen der Kreislaufwirtschaft.
Was ist Cradle to Cradle?

Michael Braungart: Cradle to Cradle geht über die Kreislaufwirtschaft weit hinaus, die ja bedeutet, Bestehendes wieder neu einzusetzen. Das ist aber nichts anderes als lineares Denken im Kreis. Cradle to Cradle hingegen ist ein Gestaltungsprinzip, nach dem alles so entworfen wird, dass es nützlich ist und nicht nur weniger schädlich. Alle Dinge, die verschleißen, wie Schuhsohlen, Bremsbeläge oder Autoreifen, werden so gestaltet, dass sie in biologische Systeme zurückgelangen können und dort nützlich sind. Alle Dinge, die nur genutzt werden, wie Waschmaschinen, Fernseher oder Computer, werden so gestaltet, dass sie technisch nützlich sind. Es entsteht also kein Abfall, sondern alles ist Nährstoff. Auf diese Art und Weise können wir den menschlichen Fußabdruck feiern, statt diesen zu minimieren.

Gebäude sind im ­Vergleich mit der Natur extrem einfach

Wie können wir Cradle to Cradle im Bauwesen nutzen?

M. B.: Ich bin überrascht, wie einfach Gebäude im Vergleich zu Bäumen sind. Wie wäre es, Gebäude zu machen, die Luft oder Wasser reinigen, Lebensraum für andere Lebewesen schafften; die nicht klimaneutral sind, sondern klimapositiv. Gebäude sind heute im Vergleich mit der Natur extrem einfach. Aber das Bauwesen ist von größter Bedeutung, da über die Hälfte alle Material- und Energieflüsse letztlich mit dem Bauen zusammenhängen.

Laut Adorno gibt es kein richtiges Leben im falschen. Sie sagen, es reicht nicht, im Sinne von Effizienz negative Auswirkungen wie CO2-Emissionen zu reduzieren; wir sollten im Sinne von Effektivität etwas Positives anstreben.

M. B.: Traditionell glaubt man, die Umwelt zu schützen, wenn man sie etwas weniger zerstört: Mach weniger Müll, schütze die Umwelt – kennen wir alle. Das ist aber kein Schutz, das ist nur weniger Zerstörung. Das wäre so, als wenn ich mein Kind fünfmal schlage statt zehnmal und dann behaupte, das wäre Kinderschutz. Es geht vielmehr darum, Dinge zu machen, die positiv, die nützlich sind. Wenn man das Bestehende optimiert, das aber falsch ist, wird es dadurch nur perfekt falsch. Wir müssen also zuerst fragen, was das Richtige ist. Wir müssen zuerst fragen, was wir wirklich erreichen wollen, also Effektivität statt nur Effizienz anstreben. Wenn ich in Hamburg bin, hilft es mir nicht, effizient nach Kopenhagen zu kommen, wenn ich eigentlich nach München möchte.

Wir müssen also fragen, wie wir nützlich sein können und nicht weniger schädlich, denn sonst optimieren wir die falschen Dinge. In Ägypten gibt es viel Plastikabfall, zu dem ich Studien betreut habe: Es ist aber das „falsche“ Plastik, das es nicht lohnt zu recyceln, weil das Waschen dreimal mehr kostet als der Materialwert. Und dann machen die Optimierer die Plastikverpackungen noch leichter, sodass es sich noch weniger lohnt, sie einzusammeln.

Wie können wir das auf das Bauen übertragen?

M. B.: Wir sollten Gebäude bauen, die den anderen Lebewesen dienen, nicht nur uns Menschen. Wir müssen lernen, für die Artenvielfalt gut zu sein und nicht weniger schädlich. Wir sollten immer zuerst eine Bestandsaufnahme machen und uns mit lokalen Umweltgruppen verständigen, welche Arten besonderen Schutz bedürfen, sodass z.B. Mauersegler, Uferseeschwalbe oder auch Pflanzen durch das geplante Gebäude zusätzlich unterstützt werden.

Viele Gebäude sind für Gesundheit und Umwelt sehr unzureichend. Die Luftqualität in den meisten Gebäuden ist drei- bis achtmal schlechter als schlechte städtische Außenluft, 40 % der Häuser bei uns haben Schimmel, Asthma ist eine häufige Kinderkrankheit. Und was tun wir? Wir versuchen energieeffizient zu sein, versiegeln die Gebäude, machen diese gasdicht. Damit optimieren wir aber das Falsche, statt erstmal zu fragen, was gesunde Luft im Gebäude ist.

Wir brauchen völlig andere Gestaltungsprinzipien. Da hilft uns die Kreislaufwirtschaft nicht sehr viel weiter. Das ist lineares Denken im Kreis; wie beim Riesenrad, man kommt immer wieder an derselben Stelle an. Das ist innovationsfeindlich, weil wir immer wieder mit denselben Materialen konfrontiert sind.

Das Bauhaus der Erde möchte mit natürlichen Baustoffen zur Klimarettung beitragen.

M. B.: Ich habe vor vielen Jahren einen Artikel geschrieben, Vom Bauhaus zum Baumhaus, weil es in der Tat neues und anderes Denken braucht. Aber es gibt gute Gründe, warum die Menschen von den natürlichen Baustoffen abgewichen sind. Heute steckt dahinter ein romantisierendes Naturverständnis. Dass wir älter werden als 30 Jahre, liegt nicht an Mutter Natur, sondern an uns, an Chemie, Physik, Medizin, Hygiene, an Ingenieuren, die in der Lage sind, Prozesse zu beherrschen und Dinge zu gestalten. Man kann sich an der Natur orientieren, an den Grundprinzipien. Die Natur ist immer reversibel, sie macht keine Chemikalien, die sich in Lebewesen anreichern. Aber auch die am schnellsten Krebs erzeugenden, die giftigsten Substanzen sind Naturstoffe. Wenn wir die Natur romantisieren, zerstören wir sie umso gründlicher und schneller.

Trotzdem gibt es natürlich viele natürliche Materialien, die mit Hightech-Prozessen aufbereitet werden, um sie wirklich effektiv einzusetzen. Zurück zur Natur mag bei Rousseau sinnvoll gewesen sein. Wir sollten uns als Teil der Natur begreifen, diese aber nicht romantisieren. Die Natur ist unsere Lehrerin, unsere Partnerin, aber nicht unsere Mutter.

Wir denken aber, es wäre gut, es gäbe uns gar nicht. Städte wie Lüneburg, München oder Stuttgart möchten klimaneutral sein. Kein Baum ist klimaneutral, sondern gut für das Klima. Wollen wir dümmer als Bäume sein? Ich komme ja auch nicht nach Hause und sage, ich bin heute kinderneutral – ich will gut für meine Kinder sein. Klimaneutral können wir Menschen nur sein, wenn wir nicht existieren.

Die Natur ist unsere Lehrerin, ­unsere Partnerin, aber nicht unsere Mutter

Das Bauen findet mit den großen Quantitäten primär in der Technosphäre statt. Wie können wir Cradle to Cradle im technischen Kreislauf bauen?

M. B.: Niemand braucht ein Fenster. Und gleichzeitig wurde noch nie ein Fenster zum Fenster recycelt. Es wird aus hochwertigem Autostahl einfacher Betonstahl gemacht und das wird als Recycling ausgegeben. Damit sind Buntmetalle wie Nickel, Chrom, Kobalt, Mangan, Wolfram, Antimon, Wismut oder Molybdän verloren. Das ist noch nicht mal ein Downcycling, weil so die Qualität des Betonstahls drastisch eingeschränkt wird. Wir haben in der Türkei im Erdbebengebiet bis zu 2,2 % Kupfer im Betonstahl gefunden. Wenn der Kupfergehalt nur 0,5 % übersteigt, bricht der Stahl beim Erdbeben wie ein Osteoporoseknochen.

Welche Lösungsansätze sehen Sie dann für die Hauptbaustoffe Beton, Stahl, Ziegel?

M. B.: Ich bin durchaus für Ziegel, auch wenn der Energieeinsatz erst mal groß erscheint, wofür es allerdings auch andere Verfahren gibt. Ich habe Tongruben in Belgien gesehen, die so angelegt wurden, dass die Nachnutzung als Biotop erfolgt. Vorher war das Grassteppe, jetzt sind es Paradiese mit unvorstellbarer Artenvielfalt. Das heißt, unser menschlicher Fußabdruck kann durchaus nützlich sein für die anderen Lebewesen.

Bleiben wir beim Stahl. Wie funktioniert ein Cradle-to-Cradle-gerechter Kreislauf mit Stahl?

M. B.: Stahl ist ein ideales Material für Cradle to Cradle, es muss nur sichergestellt werden, dass keine Buntmetalle enthalten sind. Das wäre einfach zu machen, indem man Autos besser trennbar konstruiert. Europa exportiert Unmengen an Stahlschrott nach China, weil wir es nicht schaffen, die Buntmetalle rauszuhalten. Damit verlieren wir die Buntmetalle, um diese teilweise verdünnt als Betonstahl zurückzubekommen.

Das ist also ein Designfrage?

M. B.: Das ist eine Frage der Gestaltung. Es setzt voraus, dass man die Chancen, die reiner Stahl bietet, tatsächlich auch nutzt. Das Gleiche gilt für Gips, der ein ideales Cradle-to-Cradle-Material ist und in identischer Qualität unendlich verwendet werden kann. Das setzt als Gestaltungsprinzip voraus, dass Gipskartonplatten nicht mit Altpapier hergestellt werden, weil dann die Druckchemikalien im Gips wiederzufinden wären. Das erfordert ein Stoffstrommanagement mit wirklich reversiblen Materialverbindungen.

Im Stahlbau können Schweißverbindungen durch Klebeverbindungen ersetzt werden, die reversibel sind. Selbst wenn Bauteile zusammengeschraubt werden, verlieren diese oft durch plastische Verformungen an Passgenauigkeit. Klebstoffe können hingegen durch Enzyme wieder zerstört und die Bauteile passgenau zurückgewonnen werden. Die Wertschöpfung eines Gebäudes liegt nicht im Material, sondern im Bauteil.

Wenn modulares Bauen, das seit 15 Jahren diskutiert und seit zehn Jahren teilweise umgesetzt wird, wirklich ernst genommen würde, sollten solche lösbaren Konstruktionsprinzipien eingesetzt werden. Eigentlich müsste man nach einem Lego-Prinzip bauen. Der Wert von Lego liegt nicht im Material, sondern in den Bausteinen, die immer wieder neu arrangiert werden können. Wir müssen das Designprinzip verstehen. Der Materialwert meines Mobiltelefons ist nur 3,5 Dollar, aber die Bauteile machen 60 % des Werts aus. Wenn wir es schaffen, die Bauteile anders zusammenzusetzen, dann schaffen wir eine echte Wertschöpfung.

Gibt es Ansätze für den meistgenutzten Baustoff Beton?

M. B.: Eine Positivliste für Betonadditive wäre gut. Es werden Additive verwendet wie Porenbildner, Abbindeverzögerer, Emulgatoren oder Fließmittel. Da ist der ganze Chemie-Zoo vorhanden und den habe ich dann natürlich auch im Recyclingbeton. Die heute ca. 300 Additive könnte man auf etwa 100 reduzieren, damit Beton tatsächlich in Kreisläufe gehen kann.

Recyclingbeton, das ist inzwischen bekannt, ist nicht klimapositiv.

Beton ist die ­Plastiktüte des Bauens,
so verpönt ist er

M. B.: Ja, hier wird das Falsche perfekt gemacht. Man müsste also Beton von vornherein anders gestalten. Betonbauteile sind doch entsprechend stabil, sodass man sie wiederverwenden kann. Es gibt inzwischen für Windkraftanlagen Betonelemente, aus denen man das Fundament bausteinmäßig zusammensetzen kann. Das bedeutet, das eine Windkraftanlage nach 20 Jahren auch wirklich wieder zurückgebaut werden kann.

Aber indem Beton so verteufelt wird, fällt ganz viel an Kreativität weg. Man kann Beton auch mit Kohlendioxid abbinden und viel, viel festeren Beton erreichen. Beton ist praktisch die Plastiktüte des Bauens, so verpönt ist er. Das heißt, man verliert damit auch die Kreativität junger Leute und deren Gestaltungswillen.

Aktuell ist ein Phase der Transformation, insbesondere beim Bauen. Welche Entwicklungen sehen oder wünschen Sie sich?

M. B.: Wir müssen begreifen, dass auf 1 ha Fassade mit Algen so viel Eiweiß angebaut werden kann wie auf 60 ha Acker mit Mais. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Architektur werden noch lange nicht genutzt. Warum soll ich meine Lunge einsetzen, die Luft zu reinigen? Wir können Gebäude machen, die Feinstäube an sich binden. Deutschland hat für die Corona-Abwehr Hunderte Milliarden Euro ausgegeben. Durch Corona ist die Lebenserwartung sicher um ein paar Wochen gesunken, aber wir verlieren weit mehr durch Feinstaub. Aber es gibt Lösungen. Wir haben Teppichböden entwickelt, die Feinstaub binden. In Gebäuden kann die Luft besser sein als draußen. Beim Rathaus in Venlo haben wir gezeigt, dass dann der Krankenstand 20 % niedriger ist. Der Gebäudewert ist praktisch nicht relevant im Verhältnis zu den gesundheitlichen Auswirkungen. Wenn drei Mitarbeitende krank sind, dann ist die Miete relativ unwichtig.

Die Zukunft des Bauens beginnt gerade erst. Aber nicht, indem wir möglichst wenig schädlich sind oder möglichst wenig Fläche in Anspruch nehmen. Wir sollten besser zusätzliche Lebensräume für alle Lebewesen schaffen.

Wie bauen wir klimafreundlicher?

Wir brauchen ­Gebäude und ­Quartiere, die Menschen
und anderen ­Lebewesen ­gleichermaßen ­dienen

M. B.: Wir brauchen eine Speicherung der Sommerwärme für den Winter und auch der Winterkälte für den Sommer. Mein Vater hat im Winter Eisblöcke aus Teichen geschnitten, um im Sommer damit das Bier zu kühlen. Wir haben die Fantasie in diesem Bereich völlig verloren. Weltweit müssen viel mehr Gebäude gekühlt werden als erwärmt. Aber wir haben immer das nördliche Denken. Im Prinzip ist die jetzige Nachhaltigkeitsdiskussion skandinavisch, also die Bedürfnisse der jetzigen Generationen zu erfüllen, ohne den zukünftigen zu schaden. Sagen wir zu unseren Kindern, dass wir ihnen gerade nicht schaden wollen? Was für ein trauriges Menschenbild. Wenn es dunkel und kalt ist, dann kommt man auf solche Ideen: sparen, verzichten, vermeiden, reduzieren.

Die Natur lebt von Großzügigkeit, von intelligenter Verschwendung. Ein blühender Kirschbaum im Frühling, der vermeidet nicht, der spart nicht, der reduziert nicht – der ist gut für die anderen Lebewesen. Wollen wir dümmer als Kirschbäume sein? Wie wäre es, Gebäude zu machen, bei denen die anderen Lebewesen sich freuen, dass es uns gibt? Das setzt voraus, dass wir begreifen, Teil unserer Umwelt zu sein.

Das bedeutet auch, dass wir die Babyboomer an Bord behalten müssen. Wir müssen lernen, dass wir so lange, wie wir gesund sind, auch tätig sind. Wenn wir krank sind, sollten wir aber viel mehr Unterstützung haben. Dafür brauchen wir andere Bau- und Wohnformen. In Afrika sagt man, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen – nicht zwei ungelernte Teilzeiteltern. Wir brauchen Gebäude und Quartiere, die wirklich den Menschen und den anderen Lebewesen gleichermaßen dienen.

Nachhaltig Bauen wurde lange als Hightech definiert mit Passivhäusern und ­Niedrigenergiehäusern, ganz viel Lüftung. Jetzt gibt es einen neuen Lowtech-Trend: Einfach Bauen.

M. B.: Laut Albert Einstein soll man die Dinge immer so einfach wie möglich erklären, aber nicht einfacher. Ich habe mich lange über die Passivhäuser lustig gemacht. In der Tat braucht es viel einfachere Systeme, die aber gleichzeitig Hightech sind. EBM-Papst zum Beispiel stellt Ventilatoren für Klimaanlagen her, die zehn Jahre keine Wartung brauchen. Aber die verkaufen die Ventilatoren und konkurrieren mit Kopien, die es sechs Monate später bereits in Shanghai gibt, die aber nach zwei Jahren kaputt sind.

Es braucht also v.a. neue Geschäftsmodelle – also Dienstleistungen, keine Geräte. Niemand braucht eine Solaranlage, sondern den Strom daraus. Die Firma Schüco hat Solaranlagen hergestellt, die hatten nach 19 Jahren noch 93 % des Wirkungsgrads – meine Studierenden haben das gemessen. Die chinesischen Anlagen waren in der Anschaffung 30 % billiger, haben aber in den ersten fünf Jahren die Hälfte ihres Wirkungsgrads verloren. Auf 20 Jahre wäre die Schüco-Anlage mit der Stromausbeute 40 % kostengünstiger. Niemand braucht ein Fenster, sondern Durchgucken und Wärmedämmung für 30 Jahre. Niemand braucht eine Fassade, sondern Optik und Schutz.

Wir brauchen Geschäftsmodelle für unsere Gebäude mit einem robusten Tragwerk, das tatsächlich einen Ewigkeitswert haben kann, und dann Ein- und Ausbauten, die Dienstleistungen sind. Wir können Lichtleistung statt Beleuchtung verkaufen. Das habe ich vor über 20 Jahren einer Firma in Österreich vorgestellt – die haben mich vom Hof gejagt. Heute verdienen die Geld, indem sie eben Lichtleistung verkaufen, nicht LEDs. Die Stadt Rotterdam spart damit 40 % Beleuchtungskosten ein.

Unsere Gebäude könnten in der Grundstruktur so sein wie der Kölner Dom: Wenn die Bleifenster ausgebaut werden, ist es ein Lebensraum für Insekten oder Fledermäuse. Denen ist es egal, wenn der irgendwann zusammenbricht; es entsteht immer noch ein Biotop daraus. Aber seltene und giftige Stoffe müssen so im Gebäude wie im Geschäftsmodell verankert sein, dass diese wieder ausgebaut werden können und der Menschheit weiter kontrolliert zur Verfügung stehen.

Wenn Gebäude einfach zu nutzen sind, stecken oft ganz viele Ideen dahinter?

M. B.: Ja natürlich, aber ich muss die Komplexität erst mal zulassen und dann kann ich vereinfachen, sonst führt das zu Scheinlösungen. Dafür brauchen wir einfache Zielsetzungen. Timo Leukefeld zum Beispiel, der mir durchaus imponiert, will Gebäude wirklich klimapositiv machen, fragt aber zuerst nach den Grundbedürfnissen. Trotzdem braucht es insbesondere Geschäftsmodelle. Beispielsweise Niesbrauch, also ein Nutzungsrecht für eine bestimmte Zeit, ohne das Produkt zu kaufen.

Was ist, wenn die Firma irgendwann nicht mehr da ist?

M. B.: Dann gibt es noch eine riesige Materialbasis, die ja immer etwas wert ist. Wenn Schüco das Aluminium der Fenster nicht verkaufte, würde die jährlich Hunderte Millionen Euro reicher. Niemand braucht das Aluminium, sondern dessen Nutzung. Natürlich wäre die Kapitalbindung dann zu hoch, also müsste Schüco das Material an eine Bank verkaufen und nur ein Rückkaufrecht behalten. Und ich kann dann meiner Tochter zum Abitur 5 t Aluminium schenken, das in Schüco-Fenstern verbaut ist. Dafür gäbe es entweder einen festen Zinssatz oder eine Beteiligung an der Wertentwicklung.

Die Dinge müssen nicht perfekt sein, das verzögert nur

Also wird der Materialwert von verbauten Baustoffen gehandelt.

M. B.: Vor 20 Jahren wurde ich dafür noch verlacht, jetzt wird es Standard. Es gibt inzwischen 16.000 Cradle-to-Cradle-Produkte, davon über ein Drittel aus dem Baubereich – beeindruckend, wie schnell das geht. Das ist kein Luxus, das ist wirtschaftlich sinnvoll. Wir denken in Deutschland gerne in Moralkategorien, die wir wieder vergessen, wenn es gerade schlecht läuft. In Holland fragen die Leute: Kann ich damit Geld verdienen? Letztlich ist mir das sympathischer. Immobilienentwickler wie Groß & Partner oder auch Drees & Sommer haben begriffen, dass Cradle to Cradle ein Geschäftsmodell ist.

Manchmal werde ich mit vereinfachten Versionen meiner Ideen konfrontiert, weil nur Teile verstanden wurden – Knödel to Knödel sozusagen, oder Nudel to Nudel. Aber das macht nichts. Bei schnellen Veränderungen gibt es immer Qualitätsprobleme. Die Dinge müssen nicht perfekt sein, das verzögert nur. Erich Kästner wusste: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Und schön, dass die DGNB sozusagen einen Standard setzt.

In jedem Gebäude könnten fünf wichtige Botschaften drin sein, z.B.:

  1. Betonstahl, der nur aus Eisen und Kohlenstoff besteht,
  2. Gips, der wirklich zurückgewonnen werden kann,
  3. Fenster oder Fußböden, die Dienstleistung sind,
  4. Beton, bei dem die Additive definiert sind,
  5. Holzstrukturen, die zurückgegeben und wiederverwendet werden können.

Es ist faszinierend, wie schnell sich das jetzt ändert. Ich war vor zehn Jahren bei ADLER – die hatten keine einzige Holzfarbe, mit der ich später das Holz im Ofen verbrennen kann. Heute gibt es Dutzende, weil Andrea Berghofer nicht wollte, das Holz Sondermüll wird. Unsere Kultur steht eigentlich einer schnellen Umsetzung entgegen: Du bist böse, nur göttliche Gnade kann dich erlösen. Wir wollen klimaneutral sein, weil wir glauben, aus uns heraus nicht gut sein zu können, nur weniger schlecht, maximal neutral.

Von Natur aus sind wir freundlich und großzügig. Der Club of Rome möchte Frauen entschädigt wissen, wenn sie nur ein Kind haben, weil so die Umwelt geschützt würde. Wenn wir aber sagen, es ist besser, du bist gar nicht da, damit wir unseren Fußabdruck minimieren, dann werden wir raffgierig und feindselig. Wir kämen zu einem viel bescheideneren Lebenswandel, wenn wir keine Angst hätten, wenn wir uns freuen könnten, dass es uns gibt und es allen gut geht.

Welche anderen Aspekte sollten bei der Zirkularität berücksichtigt werden?

M. B.: Zirkularität ist bereits eine Engführung und eigentlich innovationsfeindlich. Ich will doch in 500 Jahren nicht mehr den gleichen Schreibtischstuhl haben. Nachhaltigkeit ist ein Konzept für die Biosphäre. Ich möchte, dass es Löwen, Tiger und Elefanten oder Buchen, Eichen und Birken auch noch in 5000 Jahren gibt, aber nicht den gleichen Computer, die gleiche Waschmaschine. Innovation ist nie nachhaltig, sonst wäre es keine. Die Waschmaschine war nicht nachhaltig für meine Mutter, die noch die Wäsche im Fluss gewaschen hat. Das Mobiltelefon war nicht nachhaltig für die, die stationäre Telefone hergestellt haben. Der Elektromotor ist nicht nachhaltig für die, die Dieselmotoren herstellen. Wir werden unzählige Arbeitsplätze in Deutschland verlieren durch die Umstellung auf Elektromotoren. Das kommt ja weniger aus ökologischen Gründen, sondern weil die einfach billiger sind.

Je länger ein Produkt, ein Bauwerk benutzt wird, umso besser die Ökobilanz. Welche Rolle spielt die Zeit?

M. B.: Wir sollten nicht vom Lebenszyklus reden, denn dann kommen wir per se auf Langlebigkeit. Meine Studierenden machen sogar Lebenszyklusanalysen von Coladosen, aber ich habe noch keine lebende gesehen. Wir brauchen für alles definierte Nutzungszeiten. Außer für die Dinge, die inert sind, die genügend vorhanden sind, sodass wir nicht über die Nutzungsdauer auf diese aufpassen müssen. Es braucht also einen Ewigkeitskern eines Gebäudes – alles andere ist dann temporär und muss austauschbar sein.

Mit der
Nachhaltigkeits­diskussion haben
wir Kenntnisse ­erworben, die jetzt umgesetzt werden müssen

Hans Kollhoff sagt, dass Gebäude wie aus der Gründerzeit ausreichend seien. Also dass ein Kreislauf nicht notwendig sei, wenn wir für die Ewigkeit bauen.

M. B.: Das ist eine Designtyrannei. Es gibt gute Gründe, sich dem Zeitgeist anzupassen. Jede Generation muss ein Recht haben, sich auszudrücken – zeitgemäß, so wie sie es sich selbst vorstellt. Sicherlich kann es den erwähnten Ewigkeitskern geben, den ich dann aber jeweils ergänzen muss. Wir romantisieren auch hier. Die Fassade von Gründerzeitgebäuden ist durchaus schön, aber dahinter waren das teilweise jämmerliche Gebäude. In den Holzdecken war viel Müll enthalten. Die Toiletten waren im Treppenhaus. Es gab auch massive Sicherheitsprobleme, auch wenn wir heute einen übertriebenen Brandschutz haben. Das wurde inzwischen alles mühsam behoben. Es gibt also durchaus Änderungen und Lernprozesse, die man auch mal feiern kann.

Wie bauen wir in der Zukunft?

M. B.: Vier Dekaden lang haben wir eine Weltuntergangsdiskussion geführt und der Welt 20 Jahre Entwicklungsarbeit zu Wind- und Solarenergie geschenkt, ohne dass wir selbst davon einen Vorteil hätten – mangels Geschäftsmodells. Mit der Nachhaltigkeitsdiskussion haben wir Kenntnisse erworben, die jetzt umgesetzt werden müssen. Mir ist das erst aufgefallen, als Google sich meldete und nach einem Gebäude ohne Feinstaub fragte. Heute verstehe ich den Wert, und es gibt Menschen wie Christoph Ingenhoven, die das umsetzen. So entstehen Dinge, die nicht mit Sklavenarbeit konkurrieren. Wir haben fast überall den Anschluss verpasst. Aber wir haben wie kein anderes Land eine Umweltdiskussion geführt, jetzt müssen daraus Innovationen folgen. Das Bauen der Zukunft wird letztlich ein viel freudvolleres sein, wenn wir den menschlichen Fußabdruck feiern. Friedensreich Hundertwasser hat den Unterschied von Effizienz und Effektivität in seinen Gebäuden nun wirklich gezeigt, auch Gaudi. Es geht beim Bauen um wirklich umfassende Qualität und Schönheit. Das ist es. So können wir Nachhaltigkeit als Innovationschance nutzen, nicht aber, um den Menschen ein schlechtes Gewissen einzureden. Die Zukunft des Bauens beginnt vielleicht jenseits der Metropolen. Wahrscheinlich noch nicht mal in Stuttgart, wo vielleicht der Leichtbau perfektioniert wurde und damit vielfach das Falsche. Innovation entsteht meist in der Provinz, möglicherweise bei Timo Leukefeld in Freiberg in Sachsen. Das Bauhaus ist in Weimar entstanden und in Dessau, v.a. auch in Ulm und in Krefeld. Diese unglaublich schönen Industriebauten in Krefeld – das ist Innovation. Es geht letztlich weniger um Nachhaltigkeit, es geht um Innovation, Qualität und Schönheit. Die Zukunft des Bauens hat gerade erst begonnen.

Michael Braungart, geb. 1958, Studium Chemie und Verfahrenstechnik Univ. Konstanz, TU Darmstadt; 1985 Promotion Fachbereich Chemie LU Hannover; 1985–1987 Leiter Chemie Greenpeace Deutschland; 1987 Gründung Environmental Protection Encouragement Agency – EPEA Hamburg; seit 1994 Prof. Stoffstrommanagement, später Ecodesign Leuphana Univ. Lüneburg; 2002 mit William Mc­Donough Cradle to Cradle: Remaking the Way We Make Things; seit 2008 Prof. für Cradle to Cradle Erasmus-Univ. Rotterdam; 2022 Deutscher Nachhaltigkeitspreis für das Lebenswerk

Eine Langfassung des Gesprächs gibt es auf bauingenieur24.de:

www.bauingenieur24.de/artikel/im-gespraech-mit-michael-braungart-cradle-to-cradle-weniger-schlecht-ist-noch-lange-nicht-gut


McDonough, W.; Braungart, M. (2002) Cradle to Cradle: Remaking the Way We Make Things. New York: Macmillan USA.

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