A historical scenario for the future
Das Buch ist ein Blick in die Geschichte der Architektur mit dem Ziel einer ressourcenbewussten Zukunft des Bauens. Es ist die wunderbar bebilderte Zusammenfassung der Berufserfahrung von Helmut C. Schulitz über Architektur, Entwurf und Konstruktion. Allein die sich beim Durchblättern erschließende Bebilderung dieses Parforceritts durch die Konstruktionsgeschichte der Architektur begründet für jeden konstruktiv Interessierten eine unbedingte Empfehlung, gleich ob Architekt oder Ingenieurin.
Die Architektur, so die Eingangsthese nach Adolf Loos, sei zur grafischen Kunst verkommen und diese schleichende Entwicklung über Dekaden unbemerkt geblieben. Aber im Zeitalter der Digitalisierung habe sich die Trennung von Entwerfen und Baupraxis ins Unermessliche gesteigert. Heute lässt sich quasi jede Form digital erzeugen und mit numerischen Berechnungsmethoden auch irgendwie statisch nachweisen. Ist damit die Form wichtiger als Funktion, Kontext oder Konstruktion, wichtiger als das immer noch erforderliche Bauen? Diese Frage ist der rote Faden des Buchs. Der Titel liefert die Antwort a priori: Es wird ein Wendepunkt des architektonischen Entwerfens gefordert, weil die fortschreitende digitale Technologie dies alleine nicht vermag und der verantwortungsvolle Umgang mit Ressourcen und Emissionen dringend nach einer Bauwende verlangt.
Ausgangspunkt der Überlegungen war bezeichnenderweise das 50. Jubiläum von Konrad Wachsmanns Buch Wendepunkt im Bauen, das 1959 den Übergang des Bauhandwerks zur Industrialisierung des Bauens markierte. Technologie selbst bringt aber keinen echten Wendepunkt des Bauens, das ist vielmehr das Privileg derjenigen, welche diese in der einen oder anderen Weise nutzen. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten. Die dem Politiker August Bebel zugeschriebene Aussage spiegelt Schulitz‚ Ansatz wider: Über die Architekturgeschichte zeigt er die ursprüngliche Symbiose und das spätere Auseinanderdriften von Form und Konstruktion auf und skizziert letztlich eine konsistente Idee von Design und Bauen.
Eingangs wird diskutiert, ob Architektur eher Baukunst oder mehr Bildende Kunst sei, die tragende Rolle der Entwicklung der Zeichentechniken bzw. die Fokussierung auf ebendiese hinterfragt und der erforderliche Wendepunkt begründet. Vitruvs Dreiklang aus Schönheit, Funktion und Sicherheit ist keine neue Idee und doch ist der Wunsch, diesen zu ignorieren, beinah genauso alt. Historisch gesehen haben die Möglichkeiten aufkommender Materialien oder sich entwickelnder Bauweisen, anders als heute ein oftmals überbordender architektonischer Gestaltungswille, wirkliche Innovationen bewirkt. Andererseits hat sich eine gedankenlose Industrialisierung à la Plattenbauten auch als Sackgasse erwiesen. Dabei könnte industrieller Systembau nicht das Ende, sondern der Anfang von Architektur sein. Doch was bei Henry Fords T-Modell massentauglich funktioniert hat, ließ sich bisher kaum auf das Bauen übertragen, ja, hat eher zu grandios gescheiterten Universalkonzepten wie der Metastadt Wulfen geführt. Im Hier und Heute wird an Projekten wie dem Klimahaus Bremerhaven oder dem Kunsthaus Graz demonstriert, wie viel traditionelles Handwerk die Ausführung im Gegensatz zur digitalen Planung nach wie vor ist. Das große Potenzial der Neuesten Moderne, das Helmut C. Schulitz aufzeigen will, liegt bei den alten Baumeistern der Vergangenheit, nämlich im integralen Entwerfen und Planen sowie in der Zusammenarbeit aller am Bau Beteiligten bis hin zur Bauausführung. Wirklich neu sind nur die digitalen Werkzeuge und Methoden, die es ebenso gilt, gemeinsam zu nutzen. Schulitz schließt mit einer Bemerkung von Richard Rogers: „For the first time we have the knowledge and the means to create a paradise or a rubbish tip on earth. The choice is ours.“ Dies trifft genauso auf Nachhaltig Bauen in all seinen Dimensionen zu.
The turning point in architectural design
A historical scenario for the future
Helmut C. Schulitz
München: Hirmer Verlag (2021)
240 S., Softcover, 35 Euro