Die Ehrliche Ingenieurin
Wollen wir ehrlich sein: Das Einhalten des Pariser Klimaabkommens wird mehr und mehr unwahrscheinlich. Um 1,5 °C Erderwärmung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % nicht zu überschreiten, bleibt weltweit ein Budget von 500 Gt CO2 ab 2020. Bei einem jährlichen Ausstoß von ca. 35 Gt CO2 weltweit wäre dieses Budget in 14 Jahren, also im Jahr 2034, aufgebraucht [1, 2]. Wir müssten jährlich unsere Emissionen um 20 % verringen. Jedoch wird für 2022 ein neuer weltweiter Emissionshöchststand erwartet [3].
Vielleicht ist es das Vertrauen in unsere Ingenieurinnen, dass unser Forscherinnen- und Erfinderinnengeist uns retten wird. Die Ideen sind da, doch woran es scheitert, ist die Zeit. Um wieder ehrlich zu sein: Uns ist die Zeit abgelaufen, um uns in eine emissionsfreie weiterwachsende Gesellschaft zu wandeln. Die Kritik am Wachstum ist keine neue. Man könnte diese sogar als einen essenziellen Teil des Ursprungs der Klimabewegung betiteln. Mit den Grenzen des Wachstums kam die Kritik in 1972 jedoch zu einer Zeit der leeren Welt [4]. Auch Buckminster Fuller äußert sich 1996: Wir als Planende seien mitverantwortlich, for living without spoiling the landscape [5]. Für ihn liegt die Lösung im materiallosgelösten, metaphysischen Wachstum. Was wir brauchen, ist kein Miessches Less is More. Im Modernen Minimalismus steckt immer noch das unbedachte wachstumsorientierte More. Was wir brauchen, ist das Less is Enough [6].
Der Weg zu einer klimagerechten Bauwende ist die Symbiose aus Effizienz, Konsistenz und Suffizienz, also das weltweite richtige Maß in Betrachtung der Erde als endliche Ressource. Unsere These: Der erste Schritt, um diese Suffizienz zu erreichen, ist, sich einzugestehen, dass Innovation, also die immerwährende Effizienzsteigerung, nicht allein ausreichen wird. Wir müssen unser Handeln und somit auch unser Denken verändern. Unser Ziel ist eine emissionsfreie Postwachstumsgesellschaft. Diese Erkenntnisse vereint, ergeben folgende Schlussfolgerung: Die Ingenieurin ist die treibende Kraft der Effizienz. Doch gleichzeitig braucht es die ständige Betrachtung des richtigen Maßes, da die Erde endlich ist. Das Berufsbild der Ingenieurin muss sich erweitern, hin zur Ehrlichen Ingenieurin.
Eine ehrliche Konstruktion, also ein materialgerechtes effizientes Tragwerk, ist auch oftmals eine suffiziente Struktur. Die Reduzierung von Spannweiten, die Vermeidung von Auskragungen oder ein kraftschlüssiger Entwurf können Material und somit Emissionen einsparen. Anstatt eine Ingenieurin zu sein, die mit einer Mentalität des „Yo, wir schaffen das!“ jegliche architektonische Idee umsetzt, sollte es eher heißen: „Yo, stellt einfach eine Stütze!“ (Bild 1) Quasi die Ehrliche Ingenieurin, die Exzesse außerhalb eines richtigen Maßes infrage stellt und eine Haltung zu den sozialen und ökologischen Wirkungen ihres Handelns bezieht [7]. Die Leistungsphase 0, also die Bedarfsklärung, wird in den Vordergrund treten und mit ihr eine Rolle, in die sich die Ingenieurin erst einfinden muss.
Wenn unser Ziel eine Postwachstumsgesellschaft ist, wird sich die Rolle der Ingenieurin wandeln, von einer neubaugeprägten Bauschaffenden zu einer Instandsetzerin. Wie die Arch+ mit The Great Repair oder der Ingenieurbaukunst-2023-Bericht Mit dem Bestand die Zukunft neu erfinden beschreibt, ist das Verständnis, dass unsere Arbeit im Umbau und Instandhalten des Bestands liegt, endlich vorhanden. Diese Erkenntnis muss jetzt umgesetzt werden. Mit dem Fokus auf dem Bauen im Bestand ändern sich die bisher bekannten Herausforderungen in der täglichen Arbeit einer Tragwerksplanerin. Die neuen Aufgaben lauten Prüfen, Reparieren und Ertüchtigen, um so viel wie möglich vom Bestand erhalten zu können und sicherzustellen, dass das bestehende Bauwerk den neuen Anforderungen gerecht wird. Dies erfordert neben dem theoretischen Wissen auch ein großes Spektrum an praktischem Know-how.
Der Planung geht eine intensive Phase der Bestandsuntersuchung voraus, welche u. a. eine Auswertung lückenhafter oder fehlender Bestandsunterlagen, eine Beurteilung des Zustands und Standhaftigkeit der Konstruktion und die Analyse von Materialproben beinhaltet. Die Planung endet nicht mit dem Baustart, Bauen im Bestand bedeutet auch, während der Bauphase auf Unerwartetes zu reagieren. Ein positiver Umstand allerdings, da somit nicht nur im Neubau, sondern auch im Bestandsbau die Kreativität der Ingenieurin gefragt ist. Überraschungen und die damit zusammenhängenden höheren Kosten können allerdings durch die Erstellung eines fachkundigen Untersuchungskonzepts [8] und durch Einsatz von zerstörungsfreien Untersuchungsmethoden wie das Bauradar im Vorfeld minimiert werden.
Bauen im Bestand bedeutet, die Fehler unserer Vorgängerinnen aufzuräumen; und wer räumt schon gerne auf? Um ehrlich zu sein, Bauen im Bestand – und damit auch die Bauwende – bedeutet Ausdauer. Da stellt sich die Frage: Können wir das schaffen?
Liebe Ingenieurinnen, vor euch liegt ein neues Berufsbild. Ihr habt es nun in der Hand, das Berufsbild einer Ehrlichen Ingenieurin in einer Postwachstumsgesellschaft zu definieren; mit dem Optimismus des „Yo, wir schaffen das!“.
Dieser Text ist aus Gründen der Leserlichkeit im generischen Feminin geschrieben, es sollen aber alle Geschlechter mit einbezogen sein.
Literatur
- IPCC (2021) Summary for Policymakers in: IPPC [eds.] Climate Change 2021: The Physical Basis.
- Global Carbon Project (2021) CO2-Emissionen weltweit in den Jahren 1960 bis 2021.
- ARD Alpha [Hrsg.] (2022) Steigende CO2-Emissionen: Jahr für Jahr bedenklich mehr Treibhausgase [online]. München: ARD Alpha. 11. Nov. 2022. https://www.ardalpha.de/wissen/umwelt/klima/klimawandel/co2-emissionen-steigende-kohlendioxid-100.html
- Weizsäcker, E. U.; Wijkman, A. (2019) Wir sind dran. 2. Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
- Buckminster Fuller, R. (1969) Operating Manual for Spaceship Earth. Aufl. 2008/2020. Zürich: Lars Müller Publishers.
- Aureli, P. V. (2013) Less is Enough on Architecture and Asceticism. Moskau: Strelka Press.
- Nowak, J.; Kalkbrenner, P.; Madlener, S. (2023) Ganzheitlich sinnhaft Bauen, Perspektive einer jungen Generation von Tragwerksplanenden in: Bundesingenieurkammer [Hrsg.] Ingenieurbaukunst 2023. Berlin: Ernst & Sohn.
- Patitz, G. (2021) Wellen in die Tiefe schicken. B+B Bauen im Bestand 44, H. 2, S. 34–39.
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