Vom Ergänzen der Zeitschichten, dem Gebrauch von Material und Natur in der Stadt
Deutscher Nachhaltigkeitspreis Architektur 2022
Wie kann die europäische Stadt lebendig bleiben? Ihr gebauter Bestand ist die kulturelle und materielle Ressource, deren Räume und Funktionen ständig neu verhandelt werden. Es gilt, aus dem Vorhandenen zu schöpfen, um Neues zu schaffen. Das heißt im ersten Schritt, die Qualitäten eines Orts zu erkennen und mit schöpferischer Kraft das Potenzial herauszuarbeiten. Insbesondere im Prozess der Nachverdichtung müssen Flächenreserven aktiviert werden, um durch die Integration von vielfältigen Naturelementen die Biodiversität zu steigern und die mikroklimatische Balance der urbanen Lebensräume zu verbessern. Trotz aller Eingriffe durch Umgestaltung und neue Nutzungen können an den Bestandsgebäuden Zeitschichten und Materialspuren lesbar bleiben. Am Beispiel der Transformation des denkmalgeschützten Hauses Wilmina zeigen wir, mit welchen vielfältigen Maßnahmen ein vergessener Ort zu neuem Leben erwacht ist.
1 Vom Frauengefängnis zum Hotel Wilmina
Wilmina steht für ein wiederentdecktes Ensemble an einem besonderen Ort: In der Kantstraße 79 in Berlin-Charlottenburg wurden die denkmalgeschützten Gefängnis- und Gerichtsbauten aus dem 19. Jahrhundert transformiert [1]. Das Hotel Wilmina mit dem Restaurant Lovis empfängt die Gäste in dem ehemaligen Frauengefängnis, das von üppigen Gärten und ineinanderfließenden Höfen umgeben ist (Bild 1). Das frühere Amtsgericht ist unter dem Namen Amtsalon als Kunst- und Kulturraum zu neuem Leben erwacht.
Das Amtsgericht und das dazugehörige Gefängnis wurden 1896 noch als frei stehende Gebäude von den Architekten Adolf Bürckner und Eduard Fürstenau errichtet (Bild 2). Schon kurz darauf waren sie von einem neuen Häuserblock komplett eingefasst. Das Vorderhaus wurde als Strafgericht genutzt, beherbergte später die Nachlassverwaltung, die Landesanstalt für Chemie und zuletzt bis 2010 das Grundbuchamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Auch das ehemalige Frauengefängnis im Hinterhof war über Jahrzehnte Teil der Geschichte der deutschen Justiz, es diente im Zweiten Weltkrieg zur Inhaftierung von Widerstandskämpferinnen. Nach der Schließung des Gefängnisses im Jahr 1985 wurde das Gebäude als Archiv für das Grundbuchamt genutzt.
Verborgen im Inneren des Häuserblocks, blieb der Gefängnisbau jahrzehntelang unzugänglich und vergessen. Von der belebten Kantstraße aus ist nur das ehemalige Gerichtsgebäude im Vorderhaus erkennbar (Bild 3). Dessen Fassade bildet das Gesicht des historischen Ensembles, das sich bis in die Tiefe des Grundstücks erstreckt.
Die Transformation vom Gefängnis zum Gästehaus ist radikal (Bilder 4–6): Es galt, die Raumkonfiguration und ihre Bedeutung umzukehren, damit aus einem antisozialen Raum ein einladender Ort entstehen kann – ein Kleinod für den ganz bewusst gewählten Rückzug. Um die Balance zwischen historischer Konservierung und wandlungsfähiger Wiederbelebung zu halten, erforderte es eine Auseinandersetzung im Dialog mit der Substanz. Durch gezielte Interventionen mit Öffnungen, Aufbauten, Überlagerungen, Verschiebungen und Durchdringungen wurden die bestehenden Strukturen erweitert, verbunden und neu programmiert.
Damit wurde das Gebäude aus dem Dornröschenschlaf erweckt und in einen lebendigen und gleichzeitig kontemplativen Ort gewandelt, an dem der Gast der Hektik des städtischen Alltags entfliehen kann, ohne auf Austausch und gemeinschaftliches Miteinander zu verzichten.
1.1 Ein Haus aus der Vergangenheit in die Zukunft holen
Es ist etwas anderes, ob man auf dem weißen Papier entwirft oder mit einem freien Grundstück anfängt, ohne mit vorhandenen Identitäten umgehen zu müssen. Bestand ist immer eine Ressource beim Bauen, sowohl materiell als auch kulturell, daher muss man dialogisch arbeiten. Das ist manchmal anstrengend und überraschend, weil es nicht in einem Guss fertig konzipiert sein kann und man sich mit dem Vorhandenen immer wieder neu auseinandersetzen muss. Bestand ist aber nicht Bestand. Es gibt geerbtes Glück wie in einem alten Industrieloft, das bereits seinen Charme hat und in der Neuprogrammierung gut angenommen wird. Es gibt aber auch Gebäude, die man eher als ein echtes Problem bezeichnen würde. Diese verlorene emotionale Bindung wiederherzustellen und in etwas Positives zu drehen, ist sehr herausfordernd. Ziel ist es, auf dem Palimpsest der Stadt immer wieder eine neue Zeitspur zu ergänzen, ohne dass die anderen ihre Lesbarkeit verlieren. Das erzeugt eine Vielschichtigkeit, die in einer kulturgeschichtlichen Abfolge von Generationen den besonderen Wert einer Stadt ausmacht. Die Überführung eines jahrzehntelang ungenutzten und verfallenden Gebäudes in eine neue funktionierende Nutzung unter Schaffung neuer Arbeitsplätze stellt den Idealfall eines Transformationsprozesses im Hinblick auf den Umgang mit vorhandener Bausubstanz dar.
Bei der Transformation des Gefängnisses spielten vier Aspekte eine zentrale Rolle: die Natur, das Licht, die Haptik und die neuen Sichtachsen. Das Raumkonzept des Gebäudes wurde komplett umgekehrt: von einem abschreckenden zu einem einladenden Raum. Die visuellen Verbindungen zur Außenwelt waren dabei ein wichtiger Teil der Transformation. Die kleinen, vergitterten Fenster der ehemaligen Zellen ließen vor dem Umbau zwar Tageslicht in die Räume, lagen aber sehr hoch in der Fassade, um den Blick nach außen zu verwehren. Diese Öffnungen in der Mauer wurden vergrößert und die steinernen Fensterbänke in der erweiterten Öffnung wieder eingebaut, während die Gitter belassen wurden (Bild 7).
Indem viel altes Material entnommen wurde, kommt heute von allen Seiten Tageslicht in das Haus hinein über die vergrößerten Fensteröffnungen in den Zimmern, ein lang gestrecktes Oberlichtband im Atrium (Bild 8), bodentiefe Panoramafenster im Penthouse-Geschoss sowie über großformatige Fenster im Restaurant.
Der ehemalige Schleusenhof ist heute der Restaurantsaal. Die Schleuse war ein umschlossener Außenbereich, vier Wände ohne Dach, mit einem groben Steinbelag am Boden. Nun schließt eine schwarze Decke den Raum, die beiden Torbögen sind mit großen Scheiben verglast. Der Blick in die Höfe steht in einem spannenden Kontrast zu den mächtigen Ziegelwänden, die dem Saal eine ambivalente Stimmung zwischen innen und außen verleihen. Hier im Restaurant sowie an verschiedenen weiteren Orten im Haus bilden die Leuchten-Ensembles von Bocci, der kanadischen Manufaktur von Omer Abel, ein wiederkehrendes Motiv. Wenn sich die zahlreichen leuchtenden Glaskugeln in großformatigen Fensterflächen spiegeln, scheinen sich die Raumgrenzen aufzulösen (Bild 9).
Während die Menschen im Gefängnis möglichst isoliert sein sollten und klein gemacht wurden, verleiten die neuen Sichtverbindungen und Lichtquellen dazu, den Kopf zu heben und die Besonderheiten des Hauses mit seinen überraschenden Raumkontrasten zu entdecken. Wände wurden raumhoch geöffnet, um die voneinander getrennten Zellen zu großzügigen Räumen zu verbinden (Bild 10).
Die Original-Zellentüren sind erhalten geblieben, aber die Räume dahinter sind hell und fließend und strahlen eine gewisse Leichtigkeit, Ruhe und Offenheit aus – mit hellen Farben, weichen Texturen und warmen, hochwertigen Materialien (Bild 11).
2 Grünkonzept
Für das Bestandsgrün wurden während der Bauphase aufwendige Schutzmaßnahmen ergriffen (Bild 12). Beispielsweise wurde der weitläufige Efeubewuchs an den Fassaden, der in Teilen herabzustürzen drohte, behutsam zurückgeschnitten und an den Hofseiten mit weiteren Rankpflanzen ergänzt, sodass die Fassade insgesamt auf einer Fläche von rd. 1000 m² bewachsen ist.
Auf allen geeigneten Dachflächen wurden Dachgärten angelegt. Die Bepflanzung der Dächer dient als natürliche Dämmung und gleichzeitig der mikroklimatischen Optimierung im urbanen Kontext. Große Flächen des Hofbereichs wurden entsiegelt (Bild 13), renaturiert und mit einer vielfältigen, üppigen Pflanzenwelt neu gestaltet.
Rigolen im Hofgarten und Retentionsdächer dienen der Regenrückhaltung. So werden die Artenvielfalt und Biodiversität nicht nur gesichert, sondern deutlich gesteigert. Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieser Ort versiegelt als erster Baustein eines neuen Viertels in Charlottenburg, um Gericht und Gefängnis zu errichten, und beherbergt heute wieder ein Stück Natur.
Von der Straße kommend, durchquert man zunächst das Vorderhaus und gelangt durch eine Sequenz von Höfen immer tiefer in das Ensemble hinein. Im zentralen großen Gartenhof angekommen, könnte man meinen, hier sei alles schon immer so gewesen. Neben hochgewachsenen Bäumen haben sich Sträucher, Hecken und Kletterpflanzen über mehrere Jahrzehnte ungerichtet und ungehindert ausgebreitet. Diese vorgefundene urbane Wildnis wurde durch einen angelegten Staudengarten auf den jahrzehntelang versiegelten Flächen bis an die Umfassungsmauer erweitert. Hier finden sich Besucher überraschend wieder in einer Naturinsel inmitten des Stadtblocks. Der Gartenhof (Bild 14) ist quasi der erste Raum des Hotels, das grüne Foyer.
Die beiden eingeschossigen Trakte – das neue Restaurantgebäude sowie das alte Waschhaus – sind ebenfalls üppig begrünt. Hier wachsen nicht nur Bodendecker. Die Herausforderung des Gebäudes, eine Balance zu finden zwischen Bestandserhalt und Wiederbelebung sowie zwischen Konservierung und Sanierung, wurde auf die Grünflächen übertragen. Im Kontrast zu dem Starren der alten Mauern steht das Ungeplante der Natur (Bild 15).
Ein kleiner Erweiterungsbau des Restaurants verbindet Vorderhaus und Gefängnis (Bild 16): Die neue, raumbildende Mauer fügt sich ganz unbemerkt in den grünen Gartenhof ein. Sie besteht aus alten Ziegelsteinen, die aus den erweiterten Fensteröffnungen in der Gefängnisfassade stammen. Blickfang im Innenraum ist ein kleiner, umschlossener Garten, der durch eine große Glaswand hindurch seltene Farne, Reben, Kletterpflanzen und eine alte, hochgewachsene Bestandsbirke präsentiert.
Pflanzen können mehr sein als eine dekorative Ergänzung des Gebäudes. Sie können ein integraler Bestandteil der ökologischen Leistung des Gebäudes sein. Pflanzen können Nahrung produzieren, Lärm, Verschmutzung, Kohlendioxid und Feinstaub absorbieren und durch die Wasserverdunstung die Temperaturen in der Stadt senken. Wir müssen in Innenstädten wieder mehr Vitalität und Biodiversität zulassen – für das Mikroklima und die Menschen. Hortitecture ist ein Begriff, den Almut Grüntuch-Ernst für ihre Forschungsarbeit an der TU Braunschweig gewählt hat [2]. Dieser beschreibt die Suche nach Synergien in der Kombination von Architektur und Pflanzenmaterial, um das Wohlbefinden effektiv zu steigern und unseren Fußabdruck auf die gebaute Umwelt reduzieren zu können. Das Wort leitet sich vom lateinischen Wort hortus (Garten) ab, das sich mit dem Wort Architektur verbindet. Es ist die Suche nach dem Potenzial von Pflanzen als integraler Bestandteil der Architektur; nicht als Nachahmung der Natur, auch nicht durch die Entwicklung synthetischer Ersatzstoffe, sondern durch die Integration von lebendem Pflanzenmaterial.
3 Materialgebrauch – Technik – Lebendigkeit – Zukunft
Das Konzept im Wilmina zielt auf umsichtigen Materialgebrauch und folgt der übergeordneten Strategie, im gesamten Gebäude authentische Spuren der Vergangenheit zu erhalten, um Räume für die gelebte Gegenwart zu schaffen, ohne dabei jedoch die Geschichte zu vergessen. Parallel zur voranschreitenden Digitalisierung unseres Alltags gibt es eine wachsende Wertschätzung alter, hochwertiger Materialien. Das läuft letztlich darauf hinaus, dass wir auch beim Bauen eher erhalten und wiederverwenden und dabei weniger Sondermüll fabrizieren. Uns ist es in unserer Architekturpraxis grundsätzlich wichtig, dass nachhaltige Materialien zum Einsatz kommen, also keine Verbundbaustoffe. Stattdessen nutzen wir wiederverwertbare, möglichst reine Materialien, z. B. Massivholz und mineralische Baumaterialien, um die Recycling- und Reparaturfähigkeit zu erhalten.
Im Wilmina wurden Bauteile und Material aus dem Abriss an einem Ort an anderer Stelle direkt wiederverwendet. Beispielsweise wurden für den Einbau des Fahrstuhls Granitstufen eines Treppenhauses entfernt. Die Schnittkanten der Steine sind in der Wand des Fahrstuhlschachts weiterhin sichtbar, während die Granitstufen Teil der Außenanlagen wurden. Darüber hinaus wurden Ziegelsteine, die aus den erweiterten Fensteröffnungen entfernt worden sind, unmittelbar für einen kleinen Erweiterungsbau eingesetzt (Bild 17). An vielen verschiedenen Stellen im Haus wurde subtraktiv gearbeitet, um Räume zu verbinden und neu zu erschaffen, um Wege zu bereiten, neue Raumhöhen zu erreichen, um Licht hereinzulassen und somit letztlich ein ganz neues Raumgefüge zu erhalten.
Im Ensemble gibt es aber auch Erweiterungsbauten aus neuen Materialien, z. B. das Penthouse-Geschoss (Bild 18) und die Dachterrasse. Diese Räume im Penthouse-Geschoss wurden minimalistisch, klar und ruhig gestaltet. Vor den Panoramafenstern bietet ein Vorhang aus feinen Metallketten ein hohes Maß an Privatheit und gleichzeitig Schutz vor Sonne. Die filigranen Ketten sind federnd gelagert und bewegen sich leicht im Wind. Wenn das Metall in der Sonne glitzert, umhüllt der Vorhang das historische Gebäude wie ein elegant schimmernder Schleier.
Die baulichen Gegebenheiten des Gefängnisses haben uns v. a. in den technischen Bereichen Brandschutz und Akustik vor zahlreiche Herausforderungen gestellt, die eine komplexe Planung und letztlich eine umfassende Ertüchtigung des gesamten Gebäudes erforderten. Früher erreichte man den Eingang zum Gefängnis nur über eine steile Treppe, die hinter Pflanzen versteckt, zurückgesetzt in einer Fassadennische lag und unmittelbar in ein Treppenhaus mündete. Um einen bodengleichen und einladenden Zugang für alle Besucher zu schaffen, wurde die komplette Decke des Souterrains entfernt, sodass aus einem niedrigen Raum ein doppelgeschossiges Foyer wurde. Das Fenster wurde um eine darunter versetzt liegende Tür zum Hauptzugang erweitert, und nun empfängt ein freundlicher, hoher Raum die Gäste im Hotel (Bild 19).
Im Inneren des Hauses schränken die schmalen Galerien und die Originaltüren die Barrierefreiheit im Zellentrakt ein. Im ehemaligen Verwaltungsbereich konnten jedoch großzügige Zimmer entstehen, die Rollstuhlfahrern einen bequemen Aufenthalt im Hotel ermöglichen. Das Restaurant ist über den Garten schwellenfrei erschlossen und mit einem Behinderten-WC im Neubau ausgestattet.
Wer sich auf die Reise einlässt und dieses vielschichtige Stück Stadt für sich erobert, trifft auf einen unverhofften Ruhepol im Zentrum der dynamischen Großstadt und kann dort Zeitschichten, Materialspuren und Naturräume für sich entdecken.
Literatur
- Grüntuch Ernst Architekten [Hrsg.] (2022) Wilmina. Berlin: DISTANZ Verlag.
- Grüntuch-Ernst, A.; IDAS [Hrsg.] (2018) Hortitecture: The Power of Architecture and Plants. Berlin: Jovis Verlag.
Autor:in
Prof. Almut Grüntuch-Ernst
Armand Grüntuch
office@gruentuchernst.de
Grüntuch Ernst Architekten, Berlin
www.gruentuchernst.de
www.wilmina.com