Im Gespräch mit Christine ­Lemaitre & Johannes Kreißig

Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen

Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen – DGNB wurde 2007 gegründet, um Wege und Lösungen aufzuzeigen und zu fördern, die das nachhaltige Bauen verwirklichen. Bernhard Hauke hat mit den geschäftsführenden Vorständen der DGNB Johannes Kreißig und Christine Lemaitre über das bisher Erreichte, die aktuellen Herausforderungen sowie die weiteren Ziele gesprochen.

Herzlichen Glückwunsch zu 15 Jahren Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen. Was waren die Ziele des Aufbruchs in 2007?

Johannes Kreißig: Ganz plakativ formuliert, wollten wir unseren Beitrag dazu leisten, die Welt zu retten. Wir alle kennen heute die Zahlen, die den negativen Einfluss des Bau- und Immobiliensektors auf unser Klima und unsere Umwelt haben. Damals war das noch nicht so. Es gab zwar erste Green-Building-Bewegungen, gerade im angelsächsischen Raum. Aber wir haben gesehen, dass dies nicht ausreichen wird. Auch die am Markt vorhandenen Rating-Systeme waren nicht wirklich zielführend. Das wollten wir ändern. Wir wollten die Möglichkeiten, die es gibt, ausschöpfen und die Transformation der Branche hin zu einem ganzheitlich nachhaltigen Qualitätsverständnis anstoßen. Von daher haben sich die Ziele im Laufe der Zeit gar nicht wesentlich verändert.

Rückblickend, wie verlief die Entwicklung der DGNB in diesen eineinhalb Dekaden? Was waren die wichtigsten Meilensteine? Was hat sich über die Jahre verändert?

JK: Die Entwicklung der ersten Version unseres Zertifizierungssystems gleich nach der Gründung war entscheidend dafür, dass sich die DGNB so schnell und erfolgreich etablieren konnte. Zu erleben, wie viele unterschiedliche Expertinnen und Experten so intensiv und zielführend zusammenarbeiten, ohne die eigenen wirtschaftlichen Interessen nach vorne zu stellen, war schon einmalig. Und ist bis heute das Fundament, auf dem alle Weiterentwicklungen der DGNB fußen.

Christine Lemaitre: Ich hatte meinen ersten Arbeitstag bei der DGNB auf der BAU 2009 in München, als die allerersten DGNB-Zertifikate vergeben wurden. Dies war zweifelsfrei nicht nur für mich persönlich, sondern auch für die DGNB als Ganzes ein wichtiger Meilenstein. Weil wir plötzlich Gebäude hatten, die belegt haben, was möglich ist im nachhaltigen Bauen. Darauf aufbauend haben wir zahlreiche Varianten des DGNB-Systems entwickelt und die Kriterien weiter geschärft, damit die Zertifizierung immer anwendungsfreundlicher wird. Im Jahr 2012 haben wir bspw. die erste Version des DGNB-Systems für nachhaltige Quartiere veröffentlicht. Parallel dazu haben wir wichtige Kooperationen mit internationalen Partnern wie der ÖGNI in Österreich oder dem dänischen Green Building Council geschlossen. Dies hat uns enorm geholfen, unsere Aktivitäten schnell auch international bekannt zu machen.

JK: Ansonsten hat sich die DGNB insbesondere in den letzten fünf bis zehn Jahren noch sehr viel mehr konstruktiv in öffentliche Debatten einbringen können. Unser jüngst veröffentlichter Entwurf zum Gebäuderessourcenpass ist hier nur ein Beispiel von vielen. Die enorme positive Resonanz, die wir aktuell von vielen Seiten erfahren, bestärkt uns, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist. Das drückt sich derzeit auch in rasant steigenden Mitgliederzahlen aus. Hier sind wir auf dem besten Weg zu 2000 Mitgliedsorganisationen, womit wir in Europa das deutlich größte Netzwerk für nachhaltiges Bauen sind.

CL: Wichtig war, dass wir im Laufe der Zeit immer unabhängig geblieben sind. Viele sind auch heute noch überrascht, wenn man ihnen erzählt, dass wir eine Non-Profit-Organisation sind und es ohne öffentliche Gelder geschafft haben, auf ein Team von aktuell rd. 80 Mitarbeitenden zu wachsen. Und das, ohne unsere Leidenschaft zu verlieren, uns für die Transformation der Bau- und Immobilienwirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit einzusetzen – auch gegen viele Widerstände.

Anfangs war die Systementwicklung weitgehend deckungsgleich mit dem Runden Tisch Nachhaltiges Bauen des Bundes. Wie sind heute die Gemeinsamkeiten mit dem System des Bundes BNB?

JK: Beide Systeme wurden auf gemeinsamen inhaltlichen Grundsätzen entwickelt. Das ist zum einen ein ganzheitlicher Nachhaltigkeitsansatz, der ökologische, ökonomische und soziokulturelle Aspekte gleichermaßen berücksichtigt. Hinzu kommt der konsequente Lebenszyklusansatz. Hier können beide Systeme heute als Wegbereiter gesehen werden zur Durchführung von Ökobilanzierungen und Lebenszykluskostenrechnungen – Methoden, die heute EU-weit zunehmend gefordert werden. Und auch die Performance-Orientierung der Zertifizierungssysteme war von Beginn an ein wesentliches gemeinsames Merkmal. Darin unterscheiden sich DGNB und BNB auch von anderen international verfügbaren Labels.

Die enorme positive Resonanz bestärkt uns, dass der ein­geschlagene Weg der richtige ist

CL: Das BNB-System wurde ja speziell für Bundesbauten entwickelt, während die verschiedenen Varianten des DGNB-Systems für praktisch alle unterschiedlichen Nutzungen einsetzbar sind. Und das nicht nur für Neubauten, sondern auch für Sanierungen, Gebäude im Betrieb, Innenräume, Baustellen, den Rückbau und ganze Quartiersentwicklungen. Die DGNB hat hier eine ganz andere Entwicklungsdynamik aufbauen können. Während wir aktuell z. B. eine überarbeitete Version 2023 des Zertifizierungssystems für Neubauten realisieren, stammt die aktuellste Variante des BNB-Steckbriefs für Bürogebäude aus dem Jahr 2015. Viele der wichtigsten Themen rund um den Klima- und Ressourcenschutz waren damals in ihrer Dringlichkeit bei Weitem noch nicht so in der Fachöffentlichkeit bekannt. Das ist sicherlich auch ein Grund, warum das DGNB-System an vielen Stellen heute ambitionierter ist in seinen Anforderungen.

Aktuell überwiegen im Präsidium der DGNB die Architekt:innen. Anfangs war auch die Bauindustrie prominent vertreten, die Tragwerksplaner:innen sind durchgehend unterrepräsentiert.

JK: Unser Präsidium wird alle zwei Jahre im Rahmen unserer Mitgliederversammlung gewählt und arbeitet im Ehrenamt. Und wir können ja niemanden zu einem freiwilligen Engagement zwingen. Wobei das Präsidium ja auch nur eines von vielen Gremien in unserem Non-Profit-Verein ist und sich an anderer Stelle entsprechende Expertinnen und Experten aktiv einbringen. Unser wichtigstes inhaltliches Gremium zur Qualitätssicherung aller Neu- und Weiterentwicklung rund um die DGNB-Zertifizierung ist bspw. unser Fachausschuss. Hier sieht die Verteilung ganz anders aus. Und wir als Vorstände haben im Übrigen beide einen Ingenieurhintergrund.

CL: Wir eröffnen für Ingenieure aktuell auch noch mehr Möglichkeiten zum Engagement innerhalb der DGNB. Mit der Erweiterung unserer Initiative Phase Nachhaltigkeit um Ingenieurbüros und der Entwicklung einer Deklaration Nachhaltigkeit zum Thema Tragwerksplanung haben wir zuletzt ein Angebot geschaffen, das auf gute Resonanz stößt. Insgesamt muss man auch sagen, dass das Interesse, sich als Unternehmen bei der DGNB zu engagieren, zuletzt stark zugenommen hat, auch im Ingenieurumfeld. Hier ist viel Eigenmotivation erkennbar, einen Beitrag bei der Transformation des Sektors zu leisten. Vielleicht war die Gruppe der Architektinnen und Architekten hier einfach etwas eher dran.

Bei der Jury des Deutschen Nachhaltigkeitspreises Architektur wurde die geballte ­architektonische Kompetenz hervorgehoben. Ist das ein Qualitätsmerkmal? Wie ist das mit der ganzheitlichen Sichtweise, gerade beim nachhaltigen Bauen?

CL: Die ganzheitliche Perspektive auf das nachhaltige Bauen ist natürlich essenziell und immer schon die Position der DGNB. Wir übersetzen Nachhaltigkeit auch gerne mit Qualität und Zukunftsfähigkeit, um die Deutungshoheit des Begriffs im Bauen zu schärfen. Und wenn man sich die Preistragenden beim DNP in den zehn Jahren seit seiner Einführung anschaut, hat die Jury in ihren unterschiedlichen Konstellationen keinen ganz schlechten Job gemacht. Auch wenn die Ausgewogenheit zwischen Architektinnen und Architekten sowie Ingenieurinnen und Ingenieuren vielleicht noch ausbaufähig ist. Wobei wir ja auch Vertreterinnen und Vertreter aus Kommunen und einem breiteren gesellschaftlichen Kontext dabeihaben. Jedenfalls haben alle Gewinnerprojekte wertvolle Impulse gesetzt und Debatten angestoßen, die heute relevanter denn je sind.

Welche Rolle spielen die Tragwerksplanung und die Rohbauausführung beim nachhaltigen Bauen, die ja zusammen den Löwenanteil der Massen und damit auch der potenziellen Emissionen etc. maßgeblich beeinflussen?

Bauen generell ist komplex und braucht das zielgerichtete ­Zusammenspiel aller Beteiligten

JK: Einen ganz wichtigen natürlich. So wie alle anderen auch, die mit ihrer Expertise oder Entscheidungskraft dazu beitragen, die Nachhaltigkeitsqualität eines Bauprojekts zu ­maximieren. Bauen generell ist komplex und braucht das zielgerichtete Zusammenspiel aller Beteiligten. Dabei möchte ich nicht den Beitrag des einen gegen den des anderen aufwiegen. So braucht es ebenso die innovativen Lösungen der Tragwerksplanenden wie architektonische Planung, die die Langlebigkeit und Zirkularität eines Gebäudes erhöht. Aber auch die Bauproduktehersteller können einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie ihre Produkte möglichst emissionsarm produzieren. Heißt im Umkehrschluss: Das Wichtigste im nachhaltigen Bauen ist, dass frühzeitig und gemeinsam informierte Entscheidungen getroffen werden, die unnötige Umplanungen oder viel zu frühe Instandhaltungsmaßnahmen obsolet machen. Jede Art von Silodenken führt hier in Sackgassen.

Das DGNB-System ist sicher in Europa mit führend. Im Vergleich zum gesamten Bauvolumen ist die Anzahl der DGNB-zertifizierten Bauwerke aber eher gering. Wie schaffen wir die Bauwende in der ganzen Breite und wie trägt die DGNB dazu bei?

CL: Das DGNB-System ist ja nichts gesetzlich Vorgeschriebenes und bis vor Kurzem war es nicht einmal an irgendwelche Förderungen gekoppelt. Stattdessen basiert die Zertifizierung auf dem Prinzip der freiwilligen Übererfüllung. Von daher finde ich die Entwicklung schon sehr bemerkenswert. Immerhin vergeben wir in Kürze unsere zehntausendste Auszeichnung. Für mich ist jedes einzelne zertifizierte Projekt ein Beispiel, das zeigt, was möglich ist, wenn man denn auch will. In diesem Sinne kann es auch politischen Entscheidungstragenden Mut machen, mehr zu fordern, als es aktuell der Fall ist. Eben weil es Projekte gibt, die belegen, dass es geht. Die enorm gestiegene Nachfrage sowohl nach unseren Fortbildungsangeboten als auch nach den Zertifizierungen macht jedenfalls Mut, dass wir hier vorwärtskommen. Man darf bei all dem ja auch nicht vergessen, dass die Projekte, die heute fertiggestellt und zertifiziert werden, vor fünf oder mehr Jahren geplant wurden. Dieses Plus an Erkenntnisgewinn und Aktion kommt daher etwas zeitversetzt in der Praxis an. Auch wenn wir natürlich alle miteinander in der Breite noch deutlich an Geschwindigkeit gewinnen müssen.

Das neue Förderinstrument des Bundes, Qualitätssiegel Nachhaltiges Gebäude – QNG, macht die bei der DGNB von Beginn an einbezogene Ökobilanzierung zur Fördervoraussetzung. Wie passt das mit dem DGNB-System zusammen?

JK: Sämtliche QNG-Anforderungen sind über die Kriterien der DGNB-Zertifizierung abgebildet. So benötigen Bauherrinnen und Bauherren, die eine BEG-Neubauförderung in Anspruch nehmen wollen, auch eine Nachhaltigkeitszertifizierung als Nachweisführung zur Erfüllung der QNG-Kriterien. Insofern passt das sehr gut. Außerdem ist dies eine tolle Bestätigung, dass der von uns eingeschlagene Weg der richtige war. Seit Jahren setzen wir uns ja bereits dafür ein, dass wir weg von der reinen Debatte um den Primärenergiebedarf hin zu einer ganzheitlichen Nachhaltigkeitsbetrachtung mit Lebenszyklusansatz kommen.

Beim DGNB-System wird, anders als beim QNG, bei der Ökobilanzierung das Modul D mit den End-of-Life-Szenarien einbezogen. Führt das mit verschiedenen Bilanzierungsregeln nicht zu Doppelarbeit oder Verwirrung? Was ist richtig, mit oder ohne Modul D?

JK: Inhaltlich richtig ist eine Betrachtung mit einem dynamischen Modul D, bei dem der zukünftige „ökologische Restwert“ am Lebensende dem Lebenszyklus gutgeschrieben wird. Nur haben wir dabei das Problem, dass die meisten Datensätze dafür gar nicht vorliegen. Deshalb stellen wir in der kommenden Version 2023 des DGNB-Systems für Neubauten auf den QNG-Ansatz (ohne Modul D im Benchmark) um, weil dieser Ansatz näher am richtigen Ergebnis eines dynamischen Moduls D liegt als die seitherige Vorgehensweise mit Gutschriften aus der heutigen Welt. Den gleichen Ansatz wie QNG zu verwenden, macht es letztlich auch für alle Beteiligten einfacher.

Eines der aktuellen Hauptthemen ist Energiearmut, die in der öffentlichen Aufmerksamkeit den Klimaschutz abgelöst zu haben scheint.

JK: Es wird immer wieder Themen geben, die die öffentlichen Debatten zeitweise beherrschen. So ist es ja auch absolut berechtigt und nachvollziehbar, dass die Energiekrise uns intensiv beschäftigt. Am Problem der rasant steigenden Energiepreise kann man aber schön sehen, wie der Markt auf Knappheiten reagiert. Und hier wird deutlich, dass wir Energiearmut langfristig nicht mit Zuschüssen, sondern nur mit geringeren Verbräuchen bekämpfen können. Nichts ist unsozialer als Gebäude mit enormen Energiekosten. Außerdem ist die Energiearmut ein Thema, das die Akzeptanz von klimagerechten Bauweisen stark unterstützt. Die Eigenproduktion von Energie am Gebäude für eine größere Unabhängigkeit sowie ein stärkeres Bewusstsein für Energieeffizienzmaßnahmen sorgen ja auch dafür, dass die Treibhausgasemissionen der gebauten Umwelt reduziert werden.

Bleiben wir bei Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft. Was sind hier die nächsten erforderlichen Schritte?

CL: Wir entwickeln gerade einen Wegweiser für einen klimaneutralen Gebäudebestand. In diesem sind eine große Zahl möglicher oder notwendiger Maßnahmen aufgeführt, die angegangen werden sollten. Mit unterschiedlicher Dringlichkeit. Eine wesentliche Aussage dabei ist: Jeder kann heute bereits aktiv werden. Wir müssen nicht individuell in Schockstarre verharren, bis sich gesetzlich oder regulatorisch etwas ändert. Es hindert uns niemand daran, diesen eigenen Wirkungsgrad auszuschöpfen. Man muss es aber auch ernst meinen und wollen.

Inwieweit bedarf es da mehr regulatorischer und gesetzgeberischer Vorgaben, wie z. B. bei Ausschreibung und Vergabe?

JK: Ohne Regulatorik werden wir nicht schnell genug sein. Wir müssen allerdings auch verhindern, dass diese zu eng wird und damit innovative Lösungswege verhindert oder ausgebremst werden. Entscheidend ist auch, dass diejenigen, die Ausschreibungen und Vergaben verantworten, dies so passgenau wie möglich machen. Im Rahmen eines EU-Projekts haben wir eine Handreichung und verschiedene Fortbildungsmodule entwickelt, die genau hier ansetzen.

Momentan wird mit diversen Studien um das Bauen mit Holz gerungen. Die einen wollen uns damit aus der Klimakrise herausbauen, indem in den Bauwerken CO2 eingelagert wird. Die anderen wollen den natürlichen CO2-Speicher gesunder Wälder und des Bodens erhalten und ausbauen und deshalb Holz nur sehr gezielt, effizient und kaskadenartig nutzen. Was ist richtig?

CL: Jede Art von ideologisch aufgeladener Antwort ist hier fehl am Platz. Holz hat viele positive Eigenschaften, eignet sich aber nicht für jeden Einsatzzweck. So ist der Holzbau ein wichtiger Baustein des nötigen Wandels im Bausektor. Er bedarf jedoch einer differenzierten Betrachtung. Letztlich brauchen wir das intelligente Zusammenspiel diverser Materialien, abhängig von deren Verfügbarkeit in der Region und den konkreten Bauaufgaben. Auch Holz ist ein knapper und begehrter Rohstoff, und Knappheiten bildet die Ökobilanz nicht ab.

JK: Wir haben im vergangenen Jahr ein Positionspapier zum Thema Holzbau veröffentlicht, das unsere Einschätzung zusammenführt. So ist Holz weder als nachwachsender Rohstoff noch als Naturprodukt automatisch gut. Übergeordnet gilt auch für Holz oder Holzwerkstoffe, dass diese mit dem darin gespeicherten Kohlenstoff so lange wie möglich in der Gebäudenutzung bleiben sollten. Zudem ist auch im Holzbau ein Gebäude so zu planen, dass im Zuge des Rückbaus alle Materialien fraktioniert entnommen und weiterverwendet werden können.

Wie wird sich das Bauen in der kommenden Dekade weiterentwickeln?

Es bleibt zu hoffen, dass das Prinzip „höher, schneller, weiter“ zum Auslaufmodell wird

JK: Der Fokus rückt jetzt ja schon immer mehr auf den Gebäudebestand. Dies wird sich sicher weiter fortsetzen. Die automatische Abrissmentalität wird zurückgehen und das Bauen wird mehr auf die bestehende Substanz zurückgreifen. Ansonsten wird das ganze Thema Digitalisierung sicher deutlich stärker verbreitet sein als heute. Die von der EU angestoßenen Regularien zwingen Bauherren und Bestandshalter dazu, die Daten zu ihrer Gebäudeperformance systematischer zu erfassen, worin eine große Chance steckt. Hier spielen digitale Lösungen eine Schlüsselrolle. Auch das serielle oder modulare Bauen wird sicher weiter an Bedeutung gewinnen.

CL: Gleichzeitig bleibt zu hoffen, dass das Prinzip „höher, schneller, weiter“ zum Auslaufmodell wird und die Suffizienzdebatte Früchte trägt. Das gilt auch über die deutschen Grenzen hinaus. Hier muss es eine Rückkehr zum klima- und kulturgerechten Bauen geben. Wenn wir nicht aufhören, Glastürme in die Wüste zu bauen, um sie dann mit Klimaanlagen herunterzukühlen, haben wir aus Klimaperspektive noch ganz andere Probleme als heute schon.

Welche Rolle werden die aktuellen Baukostensteigerungen dabei spielen?

JK: Beim Holz haben wir ja bereits gesehen, dass sich einiges schon wieder eingependelt hat. Darüber schreibt dann letztlich aber niemand. Insofern muss man dies natürlich beobachten, ohne in Panik zu verfallen. Aber auch hier kann eine negative Entwicklung vielleicht zu positiven Effekten im Sinne der Nachhaltigkeit führen. Denn es bringt Planende, Bauherren und Investoren dazu, andere Wege zu gehen, die letztlich deutlich weniger Material benötigen.

Sie haben gesagt, dass Themen wie serielles und einfaches Bauen oder Bauen mit und im Bestand an Bedeutung gewinnen werden. Was hat die DGNB dafür in Planung?

CL: Speziell zum Thema Suffizienz und Lowtech erstellen wir in den kommenden Monaten einen eigenen Report, der einen niederschwelligen Einstieg in die Themen bietet. Für das serielle Bauen bietet die DGNB seit Langem das Prinzip der Mehrfachzertifizierung an. Aber auch unabhängig davon adressiert eine Reihe von Kriterien innerhalb der verschiedenen Varianten der DGNB-Zertifizierung Maßnahmen, die zur Prozessoptimierung und Emissionsminderung durch serielle Vorfertigung beitragen.

JK: Und auch zum Umgang mit dem Gebäudebestand gibt es bei der DGNB schon eine ganze Reihe von Planungs- und Optimierungstools. So gibt es eigene Zertifizierungssysteme für die Sanierung und für Gebäude im Betrieb. Ein wichtiges Instrument ist dabei der individuelle Klimaschutzfahrplan, den wir vor einigen Jahren eingeführt haben. Dieser unterstützt dabei, einzelne Immobilien oder ganze Portfolios systematisch Richtung Klimaneutralität zu führen. Das hilft dabei, Geschwindigkeit aufnehmen.

Und was kann jeder einzelne Bauschaffende jetzt oder in den kommenden Jahren tun, ob nun Architekt:in, Bauingenieur:in, Bauleiter:in oder Facility-Manager:in etc.?

CL: Jeder hat seinen eigenen Wirkungskreis, in welchem man heute schon anfangen kann. Vieles machen wir einfach so, weil wir es immer schon so gemacht haben. Ohne es jemals zu hinterfragen. So haben wir z. B. zu einem Klima-Planungs-Reset aufgerufen. Damit wenden wir uns an Bauherren und ihre Planungsteams. Wir wollen sie motivieren, bei ihren laufenden Projekten innezuhalten und zu überlegen, ob und wie sie noch weitere Klimaschutzmaßnahmen integrieren können. Wir alle kennen die Unsitte der baubegleitenden Planung. Keiner will sie, aber sie findet doch ständig statt – und zwar meistens dann, wenn Probleme oder Budgetkürzungen anstehen, aber nie, um die Ambition hinsichtlich Nachhaltigkeit oder Klimaschutz nochmal zu steigern. Mit unserem Appell möchten wir dies umkehren.

Abschließend, wenn Sie einen Tag Bauministerin wären, was würden Sie ändern?

CL: Die wichtigste Aufgabe wäre wohl, den Lobbyverbänden, die andauernd aus Eigeninteressen heraus auf die politischen Entscheidungstragenden einwirken, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und eine Kultur der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Akteurinnen und Akteuren der Branche aufzubauen, in der das Rad nicht ständig neu erfunden wird.


Christine Lemaitre, geb. 1975, 1995–2000 Bauingenieurstudium Uni Stuttgart; 2000–2002 Tragwerksplanerin in den USA; 2003–2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren Uni Stuttgart; 2008 Promotion; 2007–2008 Projektleiterin Bil­finger Berger Frankfurt; 2009 Leiterin ­System DGNB Stuttgart, seit 2010 geschäftsführende Vorständin DGNB; 2016–2020 Board of Directors World Green Building Council; 2017 Mitinitiatorin globale Initiative Building Sense Now; seit 2019 Vorstand Wissensstiftung; 2019 Eco Innovator Award des Global Green Economic Forum.

Johannes Kreißig, geb. 1967, bis 1993 Maschinenbaustudium Unis Stuttgart u. Arizona; 1993–1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter Institut für Kunststoffkunde u. Kunststoffprüfung Uni Stuttgart; 1998–2001 Leiter Abteilung Ganzheitliche Bilanzierung; 2001–2016 Mitgründer thinkstep AG, Vice-President Building & Construction; 2007–2015 Präsidiumsmitglied DGNB; 2010–2016 u. seit 2020 Board of Directors World Green Building Council; seit 2016 Geschäftsführer DGNB GmbH; seit 2018 geschäftsführender Vorstand DGNB e. V.; seit 2017 Sachverständigenrat Institut Bauen und Umwelt.

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