Die deutsche Wirtschaft auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit
Niedrige Flusspegelstände, großflächige Waldbrände oder Extremwetterlagen mit Sturmfluten oder Dürren: Die Folgen der Umwelt- und Klimakrise belasten die deutsche Wirtschaft schon jetzt massiv. 65 % der Unternehmen leiden unter einem zunehmenden Material- und Rohstoffmangel und 61 % unter Störungen in ihren Lieferketten. 38 % der Unternehmen beobachten, dass sich die Nachfrage ihrer Kund:innen verändert, und 22 % geben an, dass ganze Märkte für bestimmte Produkte oder Dienstleistungen wegbrechen. Und auch in Zukunft erwarten fast vier von fünf Unternehmen Schäden als Folge der Umwelt- und Klimakrise (79 %). Das hat eine repräsentative Ipsos-Umfrage im Auftrag des TÜV-Verbands unter 504 Unternehmen ab 25 Mitarbeitenden ergeben. „Die Unternehmen in Deutschland spüren die negativen Folgen der Umwelt- und Klimakrise schon heute massiv“, sagte Prof. Axel Stepken, Präsident des TÜV-Verbands, bei Vorstellung der Studienergebnisse. „Trotzdem hinken viele Unternehmen bei den eigenen Bemühungen für mehr Umwelt- und Klimaschutz hinterher.“ Das gelte v. a. für kleinere und mittelständische Unternehmen (KMU). Größte Bremsfaktoren für mehr Nachhaltigkeit sind hohe Kosten (61 %), ein schwer absehbarer Nutzen (56 %), der hohe organisatorische Aufwand (47 %) und fehlende personelle Ressourcen (47 %). Die derzeit unsichere gesamtwirtschaftliche Lage nennen 46 %. Unterstützung erwarten die Unternehmen von der Politik. 73 % fordern, dass die nationale und internationale Politik Verantwortung für die Lösung der globalen Umwelt- und Klimaprobleme übernimmt. Erst an zweiter und dritter Stelle folgen die Wirtschaft (39 %) und die Verbraucher:innen (31 %). Aus Sicht des TÜV-Verbands muss jetzt v. a. die EU-Gesetzgebung rund um den Green Deal so schnell wie möglich auf den Weg gebracht werden, um den Klimawandel zu bremsen und Umweltschäden zu verringern.
Laut den Ergebnissen der Studie tun sich viele Unternehmen beim Umwelt- und Klimaschutz noch immer schwer, v. a. KMU. Bisher haben erst 54 % eine Nachhaltigkeitsstrategie. Unter den großen Unternehmen ab 250 Mitarbeitenden sind es 73 %, bei Betrieben mit 25–49 Mitarbeitenden nur 47 %. Messbare Umweltziele wie eine Verringerung des Energieverbrauchs oder eine Erhöhung der Recyclingquote haben lediglich 38 % festgelegt: 66 % der großen Unternehmen und nur 23 % der kleinen. „Ohne eine Strategie und messbare Ziele bleiben Umweltmaßnahmen i. d. R. Stückwerk. Sie sind notwendig, um Aktivitäten bewerten und bei Bedarf nachsteuern zu können“, sagte Stepken. Und ohne eine Strategie falle es schwer, ein wichtiges Querschnittsthema wie Nachhaltigkeit fest in der Organisation zu verankern. Hinzu kommt, dass erst 37 % eine:n Nachhaltigkeitsbeauftragte:n benannt haben. Noch weniger verfügen über ein zertifiziertes Umweltmanagementsystem (34 %) oder erstellen Nachhaltigkeitsberichte (32 %). Stattdessen setzen viele Unternehmen organisatorisch auf die Sensibilisierung der Mitarbeitenden (74 %). Immerhin 68 % berücksichtigen bei wichtigen Investitionsentscheidungen Nachhaltigkeitsaspekte. Stepken: „Gerade KMU benötigen niedrigschwellige Angebote, um Nachhaltigkeitsprojekte professionell angehen zu können.“ Hier seien auch öffentlich geförderte Beratungsleistungen gefragt. Der TÜV-Verband schlägt für diesen Zweck vor, regionale Kompetenzzentren für Nachhaltigkeit in der Wirtschaft einzurichten.
Die Studie zeigt auch, dass die Unternehmen bereits viele praktische Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit ergriffen haben. 88 % achten auf Müllvermeidung und Recycling, für 65 % ist Umweltfreundlichkeit bei der Auswahl von Material ein wichtiges Kriterium und 63 % nutzen zumindest teilweise erneuerbare Energien. Etwa jedes zweite Unternehmen strebt einen nachhaltigen Fuhrpark an (51 %), z. B. mit der Umstellung auf Elektrofahrzeuge, oder verfügt über ein energieeffizientes Gebäudemanagement (48 %). Noch wenig verbreitet sind dagegen klimagerechte Dienstreisen (38 %) oder eine gänzlich klimaneutrale Logistik (24 %). „Gerade in energieintensiven Bereichen wie der Versorgung von Gebäuden und bei Verkehrsleistungen haben viele Unternehmen noch Nachholbedarf in Sachen Nachhaltigkeit“, sagte Stepken.
Dabei haben sich die Unternehmen zum Teil ehrgeizige Ziele gesetzt. Gut vier von fünf streben Klimaneutralität an (82 %). Allerdings haben nur 31 % einen festen Zeitplan für die Erreichung dieses Ziels: 5 % davon sind nach eigener Aussage schon jetzt klimaneutral, 22 % wollen dieses Ziel bis spätestens 2030 erreichen und 4 % bis spätestens 2050. 51 % streben Klimaneutralität ohne festen Zeitplan an. „Die Klimaziele von Unternehmen sollten realistisch und glaubwürdig sein“, sagte Stepken. Nach Angaben der unabhängigen Denkfabrik Agora Energiewende kann nahezu jedes Unternehmen bis zum Jahr 2040 klimaneutral werden. Stepken: „Grundlage für die Erreichung von Klimaneutralität sind eine Strategie, nachvollziehbare Ziele und die Bereitstellung von Ressourcen. Darüber hinaus sollten unabhängige Prüforganisationen den CO2-Fußabdruck zertifizieren, um Greenwashing zu verhindern.“
Der wichtigste Grund für Investitionen in nachhaltiges Wirtschaften ist die Senkung der Betriebskosten. Die Unternehmen wollen mit dem Thema Nachhaltigkeit aber auch ihr Image verbessern oder Mitarbeitende gewinnen. Ein weiterer wichtiger Grund sind gesetzliche Vorgaben. „Einheitliche gesetzliche Vorgaben schaffen gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle“, sagte Stepken. So befürworten 73 % der befragten Unternehmen eine Regulierung des Produktdesigns in Bezug auf Nachhaltigkeit. Konkret geht es hier um Anforderungen in Bezug auf Langlebigkeit, Reparaturfähigkeit oder Recyclingfähigkeit. 72 % wollen, dass die Einhaltung von Umwelt- und Klimaschutzvorgaben von unabhängigen Stellen geprüft wird. „Unabhängige Prüfungen gewährleisten, dass gesetzliche Regeln eingehalten werden“, sagte Stepken. „Und sie sind die Grundlage für die Kennzeichnung von Produkten, an der sich Verbraucher:innen und Lieferanten orientieren können.“
Aus Sicht des TÜV-Verbands müssen die geplanten Rechtsakte rund um den Green Deal in der EU möglichst schnell auf den Weg gebracht und in nationales Recht überführt werden. „Ein zentraler Hebel für den Umwelt- und Klimaschutz sind nachhaltige Produkte und ihre Wiederverwendung“, sagte Stepken. In der neuen Ökodesign-Verordnung könnten klare Vorgaben für Energie- und Ressourceneffizienz, Haltbarkeit oder die Reparierbarkeit von Produkten eine Abkehr von der herrschenden Wegwerfmentalität bedeuten. Die Einhaltung von Umweltvorgaben sollte durch unabhängige Dritte überprüft werden. „Prüfsiegel für Nachhaltigkeit müssen auf einheitlichen, internationalen Standards basieren“, betonte Stepken. Nur so schaffen sie Vertrauen, verhindern Greenwashing und führen zu einheitlichen Wettbewerbsbedingungen. Aktuelle Beispiele sind der geplante digitale Produktpass, die Zertifizierung von grünem Wasserstoff oder der Batteriepass für Elektrofahrzeuge.
Studie Umwelt- und Klimaschutz in Unternehmen: Die deutsche Wirtschaft auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit: https://www.tuev-verband.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=2738&token=7cf7318628cd570700c2dab65ff7041b0ad99870