Gebäudebestand als Ressource

Mit RoofKIT vom linearen zum zirkulären Verständnis des Bauens

Mit dem Projekt RoofKIT hat das Team des Karlsruher Instituts für Technologie den Solar Decathlon Europe 21/22 gewonnen. In zweieinhalb Jahren intensiver interdisziplinärer Teamarbeit in Lehre, Forschung und Praxis setzten sich Studierende und Lehrende aus architektonischer Perspektive mit den Fragen des nachhaltigen Ressourcenverbrauchs, der erneuerbaren Energiegewinnung und nicht zuletzt dem Zusammenleben in der Stadt der Zukunft auseinander.

1 Architekturausbildung in Zeiten der Klimakrise

1.1 Krise und Verantwortung der Bauwirtschaft

Erhebungen der Europäischen Kommission zufolge ist die Bauindustrie für fast 40 % der EU-weiten CO2-Emissionen und 50 % des Primärrohstoffverbrauchs verantwortlich. Gleichzeitig fällt im Bauwesen 36% des Festmüllaufkommens innerhalb der Europäischen Union an [1]. Der Grund dafür ist in unserem gewohnten linearen Denk- und Wirtschaftsmodell zu suchen: Rohstoffe werden aus den etablierten natürlichen Kreisläufen entnommen, daraus hergestellte Produkte und Güter werden verbraucht und anschließend entsorgt.

Einige Rohstoffe werden bald technisch, ökologisch und ökonomisch nicht mehr vertretbar aus natürlichen Quellen zu gewinnen sein. Ziel ist es daher, in geschlossenen, intelligent geplanten und mit Voraussicht entworfenen Materialkreisläufen zu operieren, um wirtschaftliche Interessen und den zukünftigen Rohstoffbedarf zu sichern.

Unbestreitbar kommt Bauschaffenden eine große Verantwortung zu, an den dafür notwendigen Veränderungen in Denken und Handeln aktiv mitzuwirken: Beim Entwurf von Gebäuden als künftige Materiallager, die langfristig flexibel umnutzbar sind, und beim Umgang mit dem Bestehenden sind die Kreativität und der Erfindungsreichtum entwerfender Architektinnen und Architekten nötiger denn je.

1.2 Die Architekturausbildung als Teil der Lösung

Vor dem Hintergrund der Klima- und Ressourcenkrise kann man die Aussage Victor Papaneks, “There are professions more harmful than industrial design, but only a few of them” [2], auch auf das Architekturschaffen anwenden. Papanek propagiert eine Kultur des Entwerfens, Planens und Bauens, in der junge Menschen als sozial und moralisch engagierte Entwerfer die Gesellschaft verändern. Dieser Anspruch findet sich auch über 50 Jahre nach Erscheinen von Design for the Real World in der Ausbildung von Entwerferinnen und Entwerfern nicht flächendeckend wieder.

In Anbetracht der krisenbedingten Dringlichkeit ist eine umfassende Ausbildung mit einem holistischen Blick auf das Baugeschehen erforderlich. Die Professur Nachhaltiges Bauen am KIT strebt daher die Etablierung eines ganzheitlichen Ausbildungskonzepts an, das sowohl theoretische Fertigkeiten als auch praktische Erfahrungen vermittelt und den Entwurf als Symbiose von Theorie und praktischem Wissen versteht.

In fachübergreifenden Vorlesungsreihen und Seminaren wird theoretisches Wissen vermittelt, ergänzend dazu finden Forschungsseminare mit experimentell ausgerichtetem Schwerpunkt statt. Eine der Hauptaufgaben des architektonischen Curriculums ist das Entwurfsstudio. Um Studierenden die Verantwortung des eigenen Handelns bewusst zu machen, werden die Entwurfsthemen mit möglichst großem Realitätsbezug gewählt, um die gelernten Techniken und Methoden aus Theorie und Praxis zusammenzuführen. Auf diese Weise wird aus einem Thema ein Fallbeispiel, das wir Prototypologie nennen [3]. Ein reales Forschungsprojekt, an dem alle Beteiligten lernen und ihre in der Lehre entwickelten Thesen überprüfen können.

1.3 Dreiklang der Nachhaltigkeit: Ressourcen, Energie und Soziales

Bei der inhaltlichen Themensetzung werden aktuelle und relevante Aufgabenbereiche mit einem schwerpunktmäßigen Aspekt der Nachhaltigkeit verknüpft, also der Ressourcenfrage, der Energiefrage oder der Frage nach sozialer Nachhaltigkeit. Jede Einzelne davon enthält einen ganzen Komplex differenzierter Teilfragen.

Bei der Ressourcenfrage widmen sich die Studierenden v. a. der Konstruktion und den verwendeten Baumaterialien: Wie können wir ohne neue Rohstoffe bauen und verhindern, dass aus Baustoffen Müll wird? Welche Rolle können nachwachsende Rohstoffe spielen?

Die Energiefrage beschäftigt sich v. a. damit, wie unsere regenerative Nutzenergie erzeugt werden kann – und was das für die Architektur eines Gebäudes oder eines Stadtquartiers bedeutet. Soziale Nachhaltigkeit verhandelt Fragen wie: Wo finden wir noch Platz? Wie wollen wir zusammen leben? Wie funktioniert ein gutes Mit­einander?

1.4 Theorie, Praxis & Lehre

Am besten funktioniert der Ansatz einer holistischen Architekturlehre, wenn ein entworfenes Projekt innerhalb des Hochschulrahmens real gebaut werden kann, das sog. DesignBuild. Das entstandene Werk ist identitätsstiftend und dient außerdem ganz praktisch der Überprüfung theoretischen Wissens. So wertvoll solche Reallabore für die Lehre sind, so wichtig sind auch die gewonnenen Erkenntnisse für die Debatte um das nachhaltige Bauen: Im besten Fall können anhand einer solchen Prototypologie neue bautechnische Methoden und Funktionsweisen aufgezeigt werden, die als Anreiz für die Bauwirtschaft dienen können.

2 RoofKIT als Glücksfall

2.1 RoofKIT als besonderes Beispiel für DesignBuild in der Lehre

Das Projekt RoofKIT ist in diesem Sinne ein Glücksfall für Lehre und Forschung. Im Zuge der Strahlkraft des Solar Decathlon ist es gelungen, Fördermittel des Bundeswirtschaftsministeriums, der Holzbauinitiative Baden-Württemberg, des KIT und vieler weiterer Förderer und Sponsoren zu erhalten und damit ein Projekt zu errichten, das nicht nur ein besonders effizientes Gebäude ist, sondern ein Reallabor, mit dem eine Vielzahl an Aspekten der zukunftsweisenden nachhaltigen Architektur und Technik in ganzheitlicher Form zusammengeführt wird.

Mit einem Team aus Studierenden und Lehrenden verschiedener Fachrichtungen, externen Spezialistinnen und Spezialisten und Partnerorganisationen ist am KIT in den letzten zweieinhalb Jahren die Komplexität der Anforderungen des Wettbewerbs im Rahmen diverser interdisziplinärer Lehrveranstaltungen in ein architektonisches Konzept gegossen worden. Dieses zeigt exemplarisch auf, wie Architektur aussehen kann, die optimistisch in die Zukunft weist, obwohl – oder gerade weil – sie sich den ganz großen Herausforderungen an das Bauen stellt: Klimakrise, Rohstoffknappheit und gesellschaftlicher Wandel.

2.2 Solar Decathlon Europe 21/22

RoofKIT ist einer von 18 Beiträgen zum Solar Decathlon Europe 21/22, einem der wichtigsten Wettbewerbe für Studierende im Bereich Architektur und Bauwesen, der sich speziell mit nachhaltigem Bauen beschäftigt. Allen Ausgaben des Solar Decathlon ist gemein, dass studentische Teams jeweils ein reales funktionstüchtiges Gebäude errichten, mit dem sie in zehn verschiedenen Disziplinen im Wettstreit gegeneinander antreten. 2022 erstmalig in Deutschland ausgetragen, weist diese Ausgabe mehrere Besonderheiten auf. Die Bergische Universität Wuppertal als Gast­geberin ergänzte die schwerpunktmäßigen Augenmerke des ­Wett­bewerbs – Energiegewinnung, Energieeffizienz, technische Umsetzung – um die Rolle der Städte, den sozioökonomischen Kontext, die Mobilitätsfrage und v. a. auch ein umfassenderes Verständnis von Nachhaltigkeit im Bausektor: kreislaufgerechte Kon­struktion und Verwendung von nachwachsenden bzw. recycelten Baustoffen. (Anm.: Von den zehn Disziplinen der 2009er Ausgabe waren sieben technischer Natur (dazu Architektur, Market Viability und Öffentlichkeitsarbeit); bei der Wuppertaler Ausgabe sind es nur noch vier klassische technische Disziplinen, ergänzt durch Fragen des sozioökonomischen Kontexts, der Mobilität und ein weiter gefasstes Verständnis von nachhaltigem Bauen, das insbesondere die Rohstofffrage mit einbezieht.)

Bild 1 Der Gebäudeprototyp von RoofKIT auf dem Wettbewerbsgelände in Wuppertal
Quelle: Zooey Braun

In der Umsetzung wurde die Wettbewerbsleistung in mehrere Betrachtungsmaßstäbe (Stadt, Quartier, Gebäude, Demonstrationseinheit) und zwei sog. Challenges aufgeteilt: die Design Chal­lenge, bei der ein Gesamtgebäude im Bestand entworfen werden muss, und die Building Challenge, bei der ein repräsentativer Ausschnitt des Konzepts und des entworfenen Gebäudes in Form eines voll funktionsfähigen Demonstrationsgebäudes von den Studierenden durchgeplant und auf dem Solar Campus in Wuppertal errichtet wird. Dieses kleine Gebäude muss die erarbeiteten Ideen und ­Lösungen für Jury und Publikum überzeugend transportieren.

Bild 2 Luftbild vom Solar Campus
Quelle: SDE 21/22

2.3 Design Challenge (Gebäudeentwurf RoofKIT)

Anhand des Entwurfs einer Aufstockung für ein bestehendes Gebäude im Wuppertaler Quartier Mirke, das Café Ada, wird unter Berücksichtigung aller genannten Planungsansätze (kreislaufgerechte Konstruktion, Urban Mining und re-use, Energie aus erneuerbaren Quellen, sozialvertägliche Integration ins Quartier) die Nachverdichtung von Wohnraum in der Stadt ohne Versiegelung neuer Flächen ermöglicht. Der Charakter des ehemaligen Indus­triegebäudes und dessen Identifikationspotenzial im Quartier werden dabei durch die behutsame Sanierung und energetische ­Modernisierung der vorhandenen Bausubstanz bewahrt. Die charakteristische Shed-Dachform des Bestandsbaus wird für die Aufstockung aufgegriffen und die südgeneigten Flächen werden zur solaren Energiegewinnung aktiviert. Eine weitere Besonderheit stellt die Urbane Fuge dar, die zwischen der bestehenden öffent­lichen Nutzung des Gebäudes und dem neuen Wohnraum erzeugt wird und die einen städtischen Möglichkeitsraum erzeugt, der sowohl der eingeführten Nutzung des Gebäudes als Tanz- und Kulturort eine neue Sichtbarkeit verleiht als auch der vielfältigen Nachbarschaft des Mirker Quartiers als Treffpunkt dienen soll.

Bild 3 Rendering Gesamtentwurf
Quelle: Team RoofKIT

2.3.1 Energiefrage: Bestand und Neu zusammendenken

Ein riesiges übersehenes Potenzial an Flächen zur Energiegewinnung befindet sich in Form von Dachflächen direkt über uns. Die Energieversorgung des gesamten Gebäudeentwurfs von Team RoofKIT basiert deshalb auf dachintegrierten PVT-Kollektoren, die aus Sonnenenergie gleichzeitig Strom und Wärme erzeugen können.

Das Team verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der von Anfang an ein integraler und sichtbarer Bestandteil des architektonischen Entwurfs ist. Umfassende passive Maßnahmen (wie z. B. Dämmung, Nutzung von Sonnenenergie und Tageslicht, natürliche Belüftung, passive Kühlung) sorgen für eine hohe Aufenthaltsqualität in den Innenräumen und werden mit innovativen Lösungen für Energie­effizienz und -versorgung kombiniert, sodass über das Jahr hinweg für Bestand und Neu die Klimaneutralität erreicht werden kann.

2.3.2 Ressourcenfrage: Die Stadt als Rohstofflager

RoofKIT betrachtet die Stadt der Zukunft und alle baulichen Anlagen darin als ein gigantisches Rohstofflager. Neue Gebäude müssen folglich derart konzipiert werden, dass die in ihnen verbauten Materialien und Baustoffe so behandelt werden, als ob sie von einem zukünftigen Projekt nur ausgeliehen wären. Die Konstruktion der Aufstockung erfolgt zerstörungsfrei, kreislaufgerecht und sortenrein rückbaubar. Das reicht aber nicht aus. Der Anspruch ist, auch die in großer Menge bereits vorhandenen Baustoffe und Bauteile, die noch gar nicht auf Kreislaufgerechtigkeit ausgelegt sind, zu verwenden. Dieser Prozess, auch als Urban Mining bekannt, betrachtet bereits die gegenwärtige Stadt als Rohstofflager, das naturgemäß noch nicht perfekt auf die Bedürfnisse des aktuellen Baugeschehens ausgerichtet ist und immer wieder Kompromisse oder kreative Lösungen verlangt. Zum Ausdruck kommt das im Einsatz verschiedener Re-use-Materialien und Bauteile, die in Kombination mit regenerativen Rohstoffen wie Holz und Lehm eine besondere Ästhetik ergeben.

2.3.3 Soziale Frage: Wem gehört die Stadt?

Der Herausforderung einer sozialverträglichen Nachverdichtung begegnet RoofKIT, indem ungenutzte Flächen im Bestand aktiviert werden. Durch die Aufstockung wird das bestehende Gebäude programmatisch und funktional aufgewertet und auch für die Bewohnerinnen und Bewohner des Bestands und auf Quartiersebene ein Mehrwert generiert. Maßgeschneidert wachsende und schrumpfende Wohnungen in Verbindung mit Sharing-Modellen mit gemeinsam genutzten Bereichen wirken zudem dem enormen Flächenverbrauch im Wohnsektor entgegen.

2.4 Building Challenge (Gebäudeprototyp RoofKIT)

Die Building Challenge im Rahmen des Solar Decathlon Europe 21/22 besteht für die Teams darin, einen repräsentativen Ausschnitt des Konzepts des entworfenen Gebäudes in Form eines voll funktionsfähigen Prototyps zu planen und auf dem Wettbewerbsgelände in Wuppertal zu errichten.

Der Gebäudeprototyp von Team RoofKIT ist wie ein Kuchenstück aus dem Gesamtentwurf zu begreifen. Der charakteristische öffentliche Bereich in der Urbanen Fuge aus dem Gesamtentwurf wird unter dem Prototyp durch dessen Aufstockung auf eine temporäre Gerüstkonstruktion geschaffen. Über eine alte Stahltreppe und einen geliehenen Lift wird der Zugang zur oberen Ebene ermöglicht, wo exemplarisch eine von vier Wohneinheiten in einem von zwei geplanten Aufstockungsgeschossen demonstriert wird.

Bild 4 Aufbau des Prototyps durch die Studierenden
Quelle: SDE 21/22

2.4.1 Individualität ermöglichen, Gemeinschafts­fläche teilen und Nachbarschaft erleben

In der relativ kleinen, exemplarisch errichteten Wohnung im Gebäudeprototyp wird ersichtlich: Multifunktional nutzbare Gemeinschaftsflächen im Gesamtentwurf für Freizeit, Arbeit und Be­gegnung ermöglichen die Verkleinerung privater Flächen. Der individuelle Raum in den Wohnungen wird deshalb auf ein Minimum beschränkt, um günstigere Mieten zu gewährleisten und so wiederum die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner zu verbessern. Die gemeinschaftlichen Wohnbereiche werden durch die Terrasse angedeutet.

2.4.2 Klimaneutralität und regenerative Energie­versorgung als integraler Bestandteil des architektonischen Konzepts

Die Ostfassade des Prototyps stellt eine von zwei Schnittkanten dar – hier wurde sozusagen das Kuchenstück aus dem Gesamtentwurf herausgeschnitten. Die öffnungslose Fassade wurde mit einer alten Lkw-Plane bespannt und sowohl als Blaupause zur Konstruktionsebene als auch als Projektionsfläche zur Erläuterung des Energiekonzepts genutzt.

Bild 5 Ansicht der Ostfassade mit Blaupause
Quelle: Zooey Braun

Energietechnisch wird das Konzept des Gebäudeentwurfs in einen kleineren Maßstab übersetzt. Zur Bereitstellung der benötigten Energie wird auch im Maßstab 1:1 Solarenergie in dachintegrierten PVT-Modulen in Wärme und Strom umgewandelt. Die Kollektoren sind farblich an das Kupferdach angepasst – eine bewusste Maßnahme, um die PVT-Anlage als integralen Bestandteil der architektonischen Gestaltung des Gebäudes zu verstehen.

In einem Pufferspeicher eingelagertes erwärmtes Wasser kann bei Bedarf von der Wärmepumpe abgerufen und in die Fußboden­heizung oder die Frischwasserleitungen eingebracht werden. Der Antrieb der Wärmepumpe, der Lüftungsanlage und aller anderen angeschlossenen Geräte wird durch den eigens regenerativ produzierten Strom gewährleistet. Überschüsse können entweder in der Batterie zwischengespeichert oder ins Netz eingespeist werden. Abweichend vom System des Gesamtgebäudes sind oszillierende, dezentrale Lüftungsanlagen mit interner Wärmerückgewinnung in die Fassade integriert. Diese kommen gänzlich ohne Kanalführungen aus. Minimierte Abluftsysteme in Bad und Dusche führen überschüssige Feuchtigkeit ab und verhindern, dass Gerüche in den Wohnbereich gelangen.

Ein intelligentes zentrales Kontrollsystem, das mit aktuellen Messdaten aus der Gebäudeeinheit sowie mit externen Vorhersage­daten bedient wird, kann die Energie- und Lüftungsbedarfe des ­Gebäudes steuern und so den Energieverbrauch in Echtzeit optimieren.

2.4.3 Kreislaufwirtschaft und Urban Mining: Präsentation einer neuen ökonomischen Denkweise und konkreter Lösungen für das Bauen im Hier und Jetzt

Alle Bauteile des Prototyps sind so miteinander gefügt, dass sie künftig zerstörungsfrei und ohne Qualitätsverlust wieder ausgebaut werden können. Er besteht aus vier vorgefertigten Holzraummodulen, die innerhalb eines Tages vor Ort zusammengesetzt werden konnten. Die aus dem Fügungsprinzip der Module heraus aufgedoppelten Träger mit Schraubverbindungen sind im Wohnraum offen sichtbar, sodass die einfache Rückbaubarkeit der ­Kon­struktion offensichtlich ist. Übertragen und skaliert auf die ­Baubranche kann durch das Prinzip der wettergeschützten Präfa­brikation der Module die Baustellenzeit reduziert, eine bessere Planbarkeit garantiert und Unwägbarkeiten durch die Baustelle vermieden werden. Darüber hinaus können Konstruktionen präzise und mit geringen Toleranzen ausgeführt werden, was für eine sortenreine Bauweise von enormer Bedeutung ist.

Bild 6 Isometrie: Ausschnitt des Prototyps aus dem Gesamtentwurf
Quelle: Team RoofKIT

In der verspielten Lamellenfassade wird sonnenverbranntes Re-use-Holz eingesetzt. Dessen Unterkonstruktion ist mit einer pilz- und leinölbasierten Holzschutzlasur angestrichen, die sowohl einen Schädlings- und Witterungsschutz bietet als auch bei kleineren Beschädigungen die Selbstregeneration des Holzes ermöglicht. Auf dem Dach kommen Paneele aus 100 % recyceltem Kupfer zum Einsatz, die in Kombination mit den dachintegrierten PVT-Modulen verwendet werden.

Bild 7 Ansicht der Westfassade mit wiederverwendeten Holz­lamellen
Quelle: Zooey Braun

Im Innern der Gebäudeeinheit erstreckt sich eine kleine, flexible Wohnung für bis zu zwei Personen von der öffentlichen zur privaten Nutzung um einen Technikkern herum. Alle Öffnungen des Prototyps sind mit wiederverwendeten Lagerfenstern unterschiedlicher Form und Abmessung versehen, welche z. B. aus vorherigen Produktionen übrig waren. Auf diese Weise demonstriert das Team, wie ein Entwurfsprozess ausgehend von aktuell Verfügbarem ebenso gelingen kann.

So kontrastieren auf der einen Seite alte, wiederverwendete Bauteile in ihrer Rauheit, wie Eichenbalken auf der Terrasse oder Altholzdielen im Innenbereich, mit fein gestalteten natürlichen Materialien, wie regionales Eschenholz als Bodenbelag, aufgespannter Schafwollfilz an Wänden und Decke oder Wandputz aus reinem Lehm. Auf der anderen Seite trifft beides auf recycelte Plattenmaterialien aus eingeschmolzenen Joghurtbechern, wiederverwerteten Glasscherben und gepresster Abfallzellulose. Auch in der Fügung der Materialien geht Team RoofKIT neue Wege und verzichtet auf Verklebungen oder Silikone für die Abdichtung in Nassräumen. In Bad und Dusche kommt eine passend gefertigte Edelstahlwanne zum Einsatz, die an den Rändern hinter der Wandbekleidung einige Zentimeter hochgeführt wird, um das Eindringen von Spritzwasser in den Boden zu verhindern.

Mit seinem Beitrag zum internationalen Studentenwettbewerb Solar Decathlon Europe 21/22 beweist das Team RoofKIT, dass die Umsetzung nachhaltiger Architektur, die Raum und Ressourcen spart, Energie sammelt und Visionen für das Zusammenleben in der Stadt entwickelt, schon heute und insbesondere unter Einbeziehung bestehender Gebäude möglich ist. So wurde das Team des Karlsruher Instituts für Technologie am 24. Juni 2022 bei der Final Ceremony des Solar Decathlon feierlich zum Wettbewerbssieger gekürt.

3 Reallabor und Ausblick

3.1 Reallabor RoofKIT in Karlsruhe

Das Gebäude von RoofKIT wird im Herbst 2022 mitten auf dem Campus Süd des KIT als eingeschossiger Bau eine Nachnutzung erfahren. Hier soll der interessierten Öffentlichkeit aufgezeigt werden, wie sich zukunftsorientiertes Bauen und Wohnen in der Stadt auch heute schon mit Ressourcen- und Klimaschutz in Einklang bringen und umsetzen lässt. Der Prototyp wird als Reallabor als temporäre Wohneinheit für ein bis zwei Personen genutzt sowie zu Mess- und Forschungszwecken verwendet werden.

3.2 Rückblick, Ausblick und Hoffnung

Der Solar Decathlon Europe 21/22 in Wuppertal könnte die erste von vielen folgenden Veranstaltungen sein, bei denen einer breiten Öffentlichkeit die enorme Bedeutung des Bauwesens in Bezug auf Ressourcen- und Klimaschutz vermittelt werden kann. Die Studierenden der teilnehmenden Hochschulen profitieren von einzigartigen Erfahrungen aus dem internationalen Austausch im Rahmen des Events, der interdisziplinären Zusammenarbeit und der Möglichkeit, Ergebnisse aus Forschung und Lehre auf direktem Weg nach außen zu präsentieren. Die Resonanz des Wettbewerbs ist groß, sowohl innerhalb des KIT als auch in der Fachpresse.

Das Projekt RoofKIT zeigt anschaulich, wie ein Paradigmenwechsel vom linearen zum zirkulären Verständnis des Bauens gelingen und zum radikalen Umdenken im Bauwesen führen kann – und muss. Es könnte zum Pilotprojekt werden, das die Ressourcenknappheit in den Mittelpunkt stellt und aus diesem Grund die Nutzung von Sekundärbaustoffen aus der urbanen Mine, die Wieder- und Weiterverwendung von Materialien, die Anwendung kreislaufgerechter Konstruktionen bereits im Entwurf voraussetzt. Nur durch diese konsequent nachhaltige Herangehensweise werden die heute errichteten Gebäude zukünftigen Generationen von Architektinnen und Architekten als Materiallager dienen können.


Projektbeteiligte

Projektleitung:
Regina Gebauer (Architektur), Nicolás Carbonare (Gebäudetechnologie)

Architektur und Konstruktion:
Fakultät für Architektur, KIT Karlsruhe, Professur Nachhaltiges Bauen – Prof. Dirk E. Hebel, Regina Gebauer, Katharina Blümke, Elena Boerman, Hanna Hoss, Philipp Jager, Daniel Lenz, Manuel Rausch, Alireza Javadian, Nazanin Saeidi, Elke Siedentopp mit Michael Hosch, Benjamin Weber, Martin Kautzsch, Julian Raupp

Gebäudetechnologie:
Fakultät für Architektur, KIT Karlsruhe, Professur Bauphysik und Technischer Ausbau – Prof. Andreas Wagner, Nicolás Carbonare, Isabel Mino Rodriguez mit Martin Kautzsch (Kooperationspartner: Klaus Rohlffs, ip5 Karlsruhe; Prof. Jens Pfafferott, Fachhochschule Offenburg; Marin Wortmann-Vierthaler, Heinrich-Meidinger-Berufsschule Karlsruhe; David Wölfle, FZI Forschungszentrum Informatik)

Tragwerksplanung Gebäude:
2hs Architekten und Ingenieur, Prof. ­Karsten Schlesier HCU Hamburg mit Johannes Hasselmann, Jonas Benjamin Ernst

Tragwerksplanung Zirkulation, Sicherheit und Fundamentation:
Fakultät für Architektur, KIT Karlsruhe, Professur Tragwerksplanung und Kon­struktives Entwerfen – Prof. Riccardo La ­Magna, David Andersson


Literatur

  1. Eurostat (2018) Waste Statistics [online]. https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Waste_statistics#Total_waste_generation
    [Zugriff am: 27.Juli 2022]
  2. Papanek, V. (2020) Design for the Real World. London: ­Thames&Hudson Ltd., S. IX ff.
  3. Heisel, F.; Hebel, D. E. (2019) Pioneering Construction Materials through Prototypological Research. Biomimetics 4, Nr. 3, pp. 56. https://doi.org/10.3390/biomimetics4030056

Autorin und Autoren

Dipl.-Ing. Daniel Lenz, daniel.lenz@kit.edu

KIT Karlsruhe, Professur Nachhaltiges Bauen

Supervisor Sustainable Construction – Team RoofKIT

M. Sc. Elena Boerman, elena.boerman@kit.edu

KIT Karlsruhe, Professur Nachhaltiges Bauen

Supervisor Sustainable Construction – Team RoofKIT

Prof. Dirk E. Hebel, dirk.hebel@kit.edu

KIT Karlsruhe, Professur Nachhaltiges Bauen,

Dekan Architekturfakultät

Faculty Advisor – Team RoofKIT

https://nb.ieb.kit.edu; https://roofkit.de/en

Jobs

ähnliche Beiträge

Die Erderwärmung ist greifbar

Climate Pulse: globale Klimadaten in Beinahe-Echtzeit.

Die Wärmewende braucht zusätzliche Fachkräfte

Wie die Wärmewende gelingt: Sieben Thesen von der Gebäude-Allianz.

Nicht viel Neues im Klimamanifest

Erwiderung auf das Manifest für einen Kurswechsel in der Klimapolitik für den Gebäudesektor (Klimamanifest).