Ein Plädoyer für die klassische Europäische Stadt und deren Baukunst
Europäische Gesellschaften konstituieren sich noch immer an Orten, die eine Geschichte haben und eine Physiognomie, die an ihrer Bausubstanz physisch erfahrbar wird. Deshalb wehren die Bürger sich dagegen, wenn ihr Dorf oder ihre Stadt durch Abriss oder Neubau das Gesicht zu verlieren droht, und deshalb ruft man lautstark nach Wiederaufbau bei Verlusten, die auch nach Generationen nicht zu verschmerzen sind. Das so verstandene Bauen entzieht sich dem zyklischen Denken, das sich fatalerweise einzuschleichen beginnt in die Nachhaltigkeitsstandards und damit die Architektur an einer existenziellen Stelle trifft und das Metier infrage stellt. Der Architekt baut prinzipiell für die Ewigkeit, schon aus gesellschaftlicher Verantwortung. Dass uns das heute nicht mehr so recht gelingen will, ist ein Problem, das es mit jedem Projekt von Neuem zu lösen gilt. Häuser, Dörfer und Städte sind keine Konsumgüter. Sie sind wie die Erde rücksichtsvoll zu behandeln, zu pflegen und vor dem Verbrauch zu schützen. Irritiert nimmt man deshalb zur Kenntnis, wenn das ultimative Ziel des Green Deal Frau von der Leyens zu sein scheint, Europa zum Leader in the Circular Economy aufsteigen zu lassen. Dies sei die europäische Wachstumsstrategie mit Hebelwirkung für die Wirtschaft, insbesondere die Bauindustrie. Als New European Bauhaus zeigt diese Initiative der Europäischen Kommission nun ihr Gesicht in bunten Broschüren mit den bekannten Nachhaltigkeitsfloskeln, nicht ohne das banalste und schamloseste Nachhaltigkeitsimage hineinzuschieben, das mit Hecken und Bäumen zottelig dekorierte und deshalb so interessante Mailänder Machwerk einer schwerfälligen Kiste (Bild 1), die mit ihrer Detaillierung der Circular Economy unfreiwillige Referenz erweist. Damit ist sie, wen wundert es, des deutschen Hochhauspreises würdig.
Das Bauhaus-Erbe
Bei allen hehren Ambitionen des frühen Bauhauses entpuppte sich sein Erbe spätestens in der westdeutschen Wirtschaftswunderzeit als schnöde Geldmacherei, die nicht nur den bodenlosen Absturz der architektonischen und baulichen Qualität in Kauf genommen, sondern unseren Berufsstand zutiefst diskreditiert hat – ein Debakel ohnegleichen, von dem wir uns bis heute nicht erholt haben. In der angloamerikanischen Architekturkritik erscheint Walter Gropius deshalb eher als problematische Figur, die mit dem Rücken zur Geschichte der allgegenwärtigen Trostlosigkeit einer funktionalistischen Architektur mit dekorierten Diagrammen begegnen wollte, „make it interesting“, während eine junge Architektengeneration schon auf dem Weg war, an die europäische Tradition des Stadtbaus und der Architektur anzuknüpfen. Ein gut gemeintes Projekt wie das von Frau von der Leyen propagierte New European Bauhaus verdankt sich kreativen Hypothesen, die nicht hinreichend überprüft werden, sowie einem renommierten Klimaforscher: Hans Joachim Schellnhuber, der sich nun um das Bauen kümmert. Interdisziplinär sollen da klimafreundliche Bauweisen entwickelt werden „aus Holz, Lehm, Binsen und Schilf“. „Es gab noch keine Epoche“, so Schellnhuber, „in der die Menschheit so scheußlich, so menschen- und klimafeindlich gehaust“ habe wie heute. Das wolle er ändern und Bauhäuser errichten an verschiedenen Orten, jeweils für‘s Klima, die Generationen und die Kunst. Vorher gelte es aber, „Verirrungen wie frei stehende Einfamilienhäuser“ zu vermeiden. Abgesehen davon, dass die Menschheit meist gar nicht so schlecht „haust“, schon gar nicht in Europa, ist doch das Einfamilienhaus jenseits der urbanen Zentren der Normalfall. Aus diesen Anmaßungen und Missverständnissen wird deutlich, wie tief der moderne, sehr deutsche Impetus, die Menschheit mit „fortschrittlichen“ Erfindungen, wenn nicht zu retten, so doch zu beglücken, selbst heute noch in sonst durchaus kritischen Köpfen verankert ist. Nach 100 Jahren Erfindungswut im Fahrwasser des Bauhauses beginnt man nun, nachdem das Debakel des ebenso kopflosen wie profitablen Drauflos-Experimentierens sich als bedrohliche Altlast erweist, nachzudenken über Holz und Stroh als Baumaterialien, deren Optimierung mit gesundem Menschenverstand offenbar nicht zu bewerkstelligen ist und deshalb des Einsatzes künstlicher Intelligenz bedarf. Hat man einmal erkannt, dass wir auf der Suche nach Lösungen für ressourcensparendes Bauen mit dem ausufernden Angebot technischer Innovationen der Bauindustrie nicht weiterkommen, nicht zuletzt, weil die hyperventilierende Entwicklung die Lebensdauer der avancierten Haustechnik rasant gegen null gehen lässt, landen wir verblüffenderweise immer wieder bei althergebrachten Materialien und Konstruktionsweisen.
Ein Haus für die Ewigkeit
Die Sättigung der Märkte für seriengefertigte standardisierte Gebrauchsgüter führte Wolfgang Streeck („Citizens as Customers“, 2012) zufolge in den 1970er-Jahren zur Umstellung „von der Bedürfnisbefriedigung zur Wunscherfüllung“. Damals begann man, das Veralten der Produkte bewusst zu beschleunigen. Wen wundert es schon, dass die Langlebigkeit eines Gebäudes nicht oder nicht hinreichend eingeht in die „grüne“ Zertifizierung, für die alle 50 Jahre abgerissen und neu gebaut werden kann. Damit wird aber das Prinzip Stadt aufgegeben, und nicht nur der europäischen. Man ist es doch den vergangenen Generationen schuldig, pfleglich mit dem Erbe umzugehen. Das auf Abriss geplante Haus ist kein Haus. Es ist bestenfalls ein Provisorium und damit nur im Ausnahmefall, bei Notunterkünften oder Festarchitekturen etwa, eine Aufgabe für Architekten. Andererseits ist aus solchen Provisorien, Holzhütten oder Höhlen die Architektur hervorgegangen. War das dringendste Bedürfnis einmal erfüllt, fortschreitend von Verfeinerung zu Verfeinerung, klima- und topografieabhängig, verfestigten sich typologische und konstruktive Konventionen des Bauens. Daraus erwuchs der handwerklichen Erfahrung ein Metier, das man Architektur nannte.
Einfach Bauen
Florian Nagler von der Technischen Universität München ist mit einem aufsehenerregenden Forschungsprojekt zum nachhaltigen, „einfachen Bauen“ angetreten, um zu beweisen, dass traditionell gebaute Häuser in Verbindung mit minimierter Gebäudetechnik „hinsichtlich Ökobilanz und Lebenszykluskosten“ heutigen Standardbauweisen überlegen sind. Anstatt des heute üblichen Wärmedämmverbundsystems aus aufgeklebtem Styropor und Kunststoffputz wurden die einschaligen Wände der drei Musterhäuser in Bad Aibling aus Massivholz, Porenbeton und Ziegel hergestellt. Die spartanisch-solide wirkenden dreistöckigen Häuser ohne Balkon haben auskragende Dächer und treten dem jeweiligen Material entsprechend handwerklich in Erscheinung, wobei die Arbeitsfugen den monolithischen Körper mit seinen tiefen Fensterleibungen sparsam gliedern. Seit den 1920er-Jahren hieß modernes Bauen Entmaterialisierung, dünne Stahlbetondecken, schmale Mauerwerkswände, weiß verputzt, große Glasflächen, Stahlrohre, dünn wie Streichhölzer, als Stützen. In den 1950er-Jahren kam zwecks Dämmung die Heraklithplatte, gepresstes Stroh, zementgebunden. In den 1970ern dann eroberte Styropor die Welt, zunächst 6 cm stark, dann immer dicker, bis zu 20, 30 cm, an die man sich inzwischen zähneknirschend gewöhnt hat. Beim Sozialen Wohnungsbau der 70er-Jahre, ich kann mich leidvoll daran erinnern, ging es immer um die Wandstärke. Bei Großprojekten konnte 1 cm weniger an der Hülle die Profitabilität des Projekts ausmachen. Wie man es dreht und wendet, eine Außenwand unter ½ m Stärke ist heute fast unmöglich, da liegt Nagler mit seinem Porenbeton. Mit Holz braucht er 10 cm weniger. „Wie gestern“, antwortet Nagler auf die Frage, wie man in Zukunft bauen sollte, er habe es nach 20 Jahren endlich geschafft, sich von der Moderne zu lösen, von „Kastenhäusern mit Flachdächern aus Beton“.
Was gibt es da noch zu erfinden?
Mit dem „Nagler“ sind wir, dank Computersimulation, fast wieder beim gründerzeitlichen Haus und seinen Raumproportionen, man muss die Gebäude nur zusammenschieben und aufstocken (Bild 2), mehr nicht, ohne Holz und ohne Binsen, so schön es ist, damit auf dem Land zu bauen. Das dem italienischen Palazzo nachempfundene Gründerzeithaus, spekulatives Bauen, wohlgemerkt, mit engen Höfen, Gärten und Schatten spendenden Bäumen, seinem weit auskragenden Dach, tiefen Grundrissen, dicken Mauern und Brandwänden, nur zwei Fassaden – eine repräsentative zur Straße und eine schmucklosere zum Hof –, opulenten Raumhöhen, tief in der Leibung liegenden hohen Fenstern, in der weit geöffneten Loggia luxuriös verschattet, erscheint zusehends konkurrenzlos gegenüber sämtlichen modernen Versuchen, billiger und v. a. ökologisch Foto: Hans Kollhoff
nachhaltiger zu bauen. Insbesondere dann, wenn man bereit ist, auf Panoramafenster und das Klischee der stereotypen „lichtdurchfluteten“ Räume zu verzichten, vielleicht sogar wieder Räume mit gedämpftem Licht schätzen zu lernen und, last but not least, davon abzusehen, dass alle Räume auf 21 °C hochgeheizt werden müssen. Dazu Kastenfenster ohne Lippendichtung zwecks minimaler Luftzirkulation durch die Fugen und damit keine Gefahr der Schimmelbildung, Zentralheizung mit gusseisernen Heizkörpern, eingebaut in den Fensternischen. Nur das Dach lässt sich besser dämmen und die Heiztechnik vernünftig optimieren – mehr braucht es nicht. Genau so könnte ein Neubau aussehen, mit konventionell verputzten, gegliederten Poroton-Mauern zur Straße und zum Hof. Wenn die Heizung in der kalten Jahreszeit noch vernünftig reguliert wird, man den Komfort etwas zurückschraubt und einen Pullover anzieht, das Schlafzimmer kühl lässt – für die Heizkostenersparnis kann man sich einen kuscheligen Kaschmirschlafanzug leisten –, gibt es nichts mehr zu erfinden. Das sommerliche Problem der Kühlung ist diesen Häusern fremd. Gibt man schließlich den Bewohnern etwas mehr Raum, kann man auf großzügigerer Fläche auch arbeiten, mit Freunden zusammenkommen oder Kinder toben lassen. Es bedarf also keiner Anstrengung, neue Typologien auszuprobieren. Schon gar nicht städtebaulich: Die schmalen Straßen mit ihren Baumalleen, der technischen Infrastruktur unter dem Gehweg, mit Läden in den Erdgeschossen für den täglichen Bedarf und ab und zu ein öffentlicher Garten, Park oder kleiner Platz – mehr braucht es nicht (Bild 3). Es hat Jahrhunderte gedauert, bis dieses Prinzip urbanen Zusammenlebens sich herausgebildet hat, von Mesopotamien über Pompeji und den römischen Insulae bis zum großstädtischen Mietshaus, wie wir es aus Paris, Wien oder Mailand kennen – besser geht es nicht! Solche Quartiere sollte man rigoros unter Schutz stellen und verbieten, auch nur die Fassaden anzutasten, um sie energetisch zu „optimieren“.
Weder zirkuläres Bauen noch Sozialer Wohnungsbau
Selbst für einen erfahrenen Architekten ist es heute schwer einzusehen: Es gibt nichts Nachhaltigeres als die vor 150 Jahren gebauten Gründerzeithäuser, nicht zuletzt deshalb, weil sie immer noch nicht abgerissen und der Kreislaufwirtschaft zugeführt wurden. Das Kreislaufdenken ist reines Profitinteresse der Bauwirtschaft, die gut lebt mit Abriss und Neubau und dem ganzen Rattenschwanz „grüner“ Haustechnik, der da dranhängt, mit Normen und Gütesiegeln nobilitiert, vom Bund gefördert – und nach 20 Jahren schrottreif. Die Kreislaufwirtschaft widerspricht ja nicht nur dem Selbstverständnis des Architekten, sondern auch einer vernünftigen Vorstellung von Nachhaltigkeit. Zugunsten dieser über Jahrhunderte optimierten Bauweise sollte man auch aufhören mit dem „Sozialen“ Wohnungsbau, erfunden in der Bauhauszeit und anfänglich als Genossenschaftsmodell noch erfolgreich, erscheint er heute als Anachronismus am Stadtrand. Ist er überhaupt nötig, fragt man sich angesichts der Milliarden, die plötzlich ausgegeben werden, ohne mit der Wimper zu zucken. Wo lebt denn, wer sich keine Villa leisten kann, aber auf den Sozialen Wohnungsbau nicht länger angewiesen ist? Hätte man nicht längst die Städte von innen her wiederbeleben, bewusst die problematischen Flächen in Angriff nehmen können, Areale, die vor sich hindümpeln, weil man nicht einfach im großen Stil drauflos „metern“ kann? Flächen mit Kontamination, eigentumsrechtlichem Klärungsbedarf, Emissionsbelastung, kontroversen politischen Ansprüchen und schließlich die Millionen kleiner Parzellen, wo Neubau „sich nicht rechnet“ und eine um sich greifende Verwahrlosung in Kauf genommen wird.
Die Zukunft liegt im Zentrum
Manchmal wird die Zukunft von der Vergangenheit eingeholt, wie jetzt, wo das Ende der Shopping-Meilen absehbar ist, die die Städte an ihren empfindlichsten Stellen verletzt und ihre wertvollsten Stadträume nicht selten zerstört haben, nur um mit Billigkonsum und der deutschen Schnäppchenjägerei Profit zu machen unter dem Slogan Lebendige Stadt. Jetzt kann man dort hoffnungsvoll der Zukunft entgegensehen, den Fußgängerzonenmüll beseitigen und die Straße wieder hervorholen. Wieder zu wohnen im Stadtzentrum, dieses Ziel rückt in greifbare Nähe, die „Innenstadt als Wohnort“. Man könnte wieder mit der Familie spazieren gehen, ohne dass einem das Geld ständig aus der Tasche gezogen wird. Und man könnte auf den entrümpelten Plätzen wieder sitzen und mit Freunden ein Bier trinken, wie das heute nur noch im Süden möglich ist.
Warum ist unser Land, wenn es um Architektur geht, nicht um Technik und alles andere, ein Entwicklungsland? Hat es damit zu tun, dass wir nicht zurückfinden an den Punkt, an dem der geschichtliche Faden gerissen ist mit dem Bauhaus? Warum schaut man sich nicht an, wie vor 1925 gebaut wurde, und macht dort weiter, so gut es heute geht? Wie kann unser Selbstverständnis als Disziplin auskommen ohne die Besinnung auf Alfred Messel, Peter Behrens und Mies van der Rohe, der das Bauhaus hinter sich gelassen hat, in Amerika! Ist das nicht unser Maßstab?
Der Text ist ein Auszug aus Hans Kollhoffs Buch „Architekten. Ein Metier baut ab“, das kürzlich erschienen ist.
Autor
Prof. Hans Kollhoff zählt zu den profiliertesten Architekten Europas. Er entwarf u. a. in Berlin das Klinker-Hochhaus am Potsdamer Platz und den Masterplan Alexanderplatz.
Prof. Kollhoff Generalplanungs-GmbH
www.kollhoff.de, buero@kollhoff.de