Bewusste Konstruktion und robuste Technik
(Finalist) Deutscher Nachhaltigkeitspreis Architektur 2021
Bauen wird immer komplexer. Dies überfordert Planer und Baufirmen, aber v. a. auch die späteren Nutzer. Inzwischen wurde mehrfach beobachtet, dass die Häuser in der Praxis nicht so funktioniert haben, wie in der Theorie vorgesehen, denn bei komplexen Projekten passieren viele Fehler. Auch verhalten sich die Nutzer anders als vermutet. Da liegt es nahe zu überlegen, ob es nicht auch einfacher und robuster geht. Die TU München hat das einfache Bauen erforscht und die Erkenntnisse zusammen mit der B&O-Gruppe in drei Forschungshäusern aus Holz, Mauerwerk und Infraleichtbeton angewandt. Allein mit den Mitteln der Architektur und reduzierter, robuster Technik wird ein angenehmes Raumklima geschaffen.
1 Forschungsschwerpunkt
Die Anforderungen an den Wärme-, Brand- und Schallschutz von Gebäuden steigen seit Jahrzehnten stetig. Neben der Optimierung von Baumaterialien wird v. a. durch den vermehrten Einsatz von technischen Anlagen versucht, die hohen Ziele zu erreichen: Energie (in Form von Heizenergie) zu sparen und für die Nutzerinnen und Nutzer einen ganzjährigen Komfort zu gewährleisten. In der Folge ist der Anteil für technische Anlagen an den Baukosten in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Die Baukostensenkungskommission der Bundesregierung kam zu dem Ergebnis, dass v. a. die Kostengruppe 400 (technische Gebäudeausrüstung) für die Kostensteigerung am Bau verantwortlich ist (Bild 2).
Weiterhin führt dies zu einer Vielzahl von Vorschriften und technischen Regelungen, die Planende und Bauherrschaften oftmals überfordern. Fehler in Planung, Ausführung und Bedienung sind die Folge. „Die Dinge, die wir entwerfen, und die wir umsetzen, sind in der Regel zu kompliziert“, findet Florian Nagler, unter dessen Federführung der Forschungsschwerpunkt Einfach Bauen an der TU München stattfindet. „Da ist der Reflex verständlich, zu fragen: Wie geht das einfacher?“ [2]
Vor diesem Hintergrund hat sich an der TU München das Thema Einfach Bauen als Forschungsschwerpunkt etabliert. Das Team unter der Leitung von Prof. Florian Nagler, bestehend aus Architektinnen und Architekten sowie Ingenieurinnen und Ingenieuren im Bau- und Umweltbereich, stellte sich die Frage, wie die Architektur mit baulichen Mitteln so optimiert werden kann, dass es möglichst wenig Technik bedarf, um ein angenehmes Raumklima zu erzeugen. Und wie verhalten sich derart „einfach gebaute“ Häuser im Vergleich zu Standardwohngebäuden oder Wohngebäuden in Niedrigenergiebauweise bez. Umweltwirkung und Lebenszykluskosten über einen Betrachtungszeitraum von 100 Jahren? In dem von der Forschungsinitiative Zukunft Bau [3] geförderten Forschungsprojekt Einfach Bauen – Integrale Strategien für energieeffizientes, einfaches Bauen mit Holz, Leichtbeton und hochwärmedämmendem Mauerwerk – Untersuchung der Wechselwirkungen von Raum, Konstruktion und Gebäudetechnik wurden über einen Zeitraum von zwei Jahren grundlegende Prinzipien des einfachen Bauens untersucht.
Das Team simulierte über 2000 verschiedene Raumvarianten mit unterschiedlichen Proportionen, Fenstergrößen und Materialien und wertete diese aus. An den erfolgreichen Raumkonfigurationen wurde als Nächstes deren Robustheit gegenüber sich verändernden Randbedingungen, bspw. dem Klima oder dem Nutzerverhalten, untersucht. Im dritten Schritt wurden auf Basis der Raumvarianten drei typische Bauformen im Geschosswohnungsbau als Basis für eine Mengenermittlung und Abschätzung der Verbrauchswerte schematisch erstellt (Bild 3).
An drei Fassadenmodellen in Massivholz, Mauerwerk und Dämmbeton im Maßstab 1:1 testeten die Forschenden monolithische Konstruktionen mit einfachen Detaillösungen (Bild 1).
Insgesamt bestätigen die Ergebnisse die anfangs aufgestellte These, dass einfache Wohngebäude mit hochwertiger, suffizienter Architektur, robuster Baukonstruktion und reduzierter Gebäudetechnik hinsichtlich Umweltwirkung und Lebenszykluskosten sowohl Standardwohngebäuden als auch Niedrigenergiehäusern überlegen sind. Einfach bauen bedeutet, ein Gebäude bereits in den ersten Planungsschritten durch eine Vielzahl von Entscheidungen robust und langlebig zu gestalten.
Die Ergebnisse finden sich im Forschungsbericht [3] und unter www.einfach-bauen.net.
2 Forschungshäuser
Parallel dazu hat die B&O-Gruppe in Zusammenarbeit mit dem Forschungsteam die Strategie Einfach Bauen an drei Forschungshäusern in Massivholz, wärmedämmendem Mauerwerk und Leichtbeton umgesetzt (Bild 4). In Bad Aibling entstanden nicht unterkellerte Wohngebäude mit jeweils drei Geschossen und insgesamt 23 Wohnungen. Die material- und klimagerecht konstruierten Gebäude benötigen von sich aus wenig Heizenergie und überhitzen im Sommer nicht. Der Einsatz von einschichtigen Bauteilen aus natürlichen und nachwachsenden Rohstoffen schont die Umwelt über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes hinweg. Entstanden sind Wohngebäude, die einfach zu bauen und einfach zu betreiben sind. Mittels Langzeitmessungen kann nun geprüft werden, ob die Erkenntnisse aus der Theorie auch in der Praxis Gültigkeit behalten.
3 Leitfaden
Parallel zu den Forschungshäusern wurde ein Leitfaden (erschienen im Birkhäuser Verlag, ISBN: 978-3-0356-2463-2) erstellt. Dieser soll wichtige Prinzipien, die der Strategie Einfach Bauen zugrunde liegen, einem interessierten Publikum nahebringen und so zur Verbreitung des Wissens beitragen. Es folgen Auszüge aus dem Leitfaden. Die vorgestellten drei Abschnitte beschäftigen sich mit Schnittstellen und zeigen erstaunliche Zusammenhänge zwischen Bebauungsplan und Zählerstand (Absatz Kompaktheit) oder Neubauplanung und Sanierung (Absatz Systemtrennung). Was inzwischen kein Erstaunen mehr hervorruft, ist der große Einfluss des Verhaltens der Bewohner auf den Erfolg von technischen Konzepten, die Energie einsparen sollen. Die Gründe dafür und was man besser machen sollte, haben die Autoren im Abschnitt Robuste Technik zusammengetragen.
3.1 Kompaktheit
Die Gegenüberstellung einer Stadtwohnung mit einem Tiny House zeigt es deutlich: Auch wenn man die Wohnfläche auf 18 m2 reduziert, ist die Hüllfläche – also Dach, Außenwand und Fenster – doppelt so groß wie bei einer 72 m2 großen Wohnung im Obergeschoss eines mehrstöckigen Hauses.
Außenwände und Dächer sind die teuersten Flächenbauteile an einem Gebäude. Im Vergleich zu Innenwänden und Decken entstehen bei der Herstellung Mehrkosten von 50 bis 300 Euro/m2 [4]. Die Hülle zu reduzieren, spart also Geld.
Bauteile der Hülle sind deshalb teurer, weil sie gedämmt sein müssen. Dämmung behindert den Fluss von Wärmeenergie „von warm nach kalt“. Ein gedämmtes Haus verliert im Winter deshalb über die Außenhülle weniger Wärme an die Umwelt.
Außenwände und Dächer gut zu dämmen, ist also sinnvoll. Noch besser ist es aber, die Fläche der Hülle selbst zu reduzieren. Dabei gibt es zwei Strategien:
- Reduktion der Wohnfläche:
Geht man effizient mit der Wohnfläche um, dann reduziert sich die notwendige Hülle automatisch mit. - Kompakte Bauweise:
Die Flächen der Außenwand und des Dachs werden gegenüber der Wohnfläche reduziert.
Eine städtische Blockrandbebauung z. B. verfolgt diese Strategie besonders konsequent (Bild 5). Werden beide Strategien, also die Reduktion der Wohnfläche und eine kompakte Bauweise, miteinander kombiniert, werden dadurch der Materialeinsatz und der Energieverbrauch im Betrieb direkt gesenkt. Gleichzeitig werden häufig auch Umwelteinflüsse wie Flächenverbrauch, Erschließungsaufwand und Verkehrsaufkommen positiv beeinflusst. Es ist wichtig anzuerkennen, dass bauliche Dichte nicht nur auf der persönlichen, sondern auch auf der kommunalen, politischen und gesellschaftlichen Ebene verhandelt und entschieden wird. Ob es möglich ist, diese beiden Strategien einzeln oder kombiniert anzuwenden, hängt also von den eigenen Wünschen, dem Bauplatz und dem Umfeld ab.
3.1.1 Umsetzung in den Forschungshäusern
Die Forschungshäuser in Bad Aibling (Bild 6) bieten jeweils eine Wohnfläche von 400 m2 bei einer Hüllfläche von 870 m2. Das Verhältnis von ca. 1:2 ist günstig im Vergleich zum Tiny House (ca. 1:5) und ungünstiger als die Wohnung im Obergeschoss einer Blockrandbebauung (ca. 2:1). Eine Änderung des Bebauungsplans war notwendig, um die Forschungsgebäude in dieser Form auf dem Grundstück bauen zu können.
3.2 Systemtrennung
Häuser werden von uns als statisch wahrgenommen. Daher bezeichnen wir diese auch als „Immobilie“ im Gegensatz zum beweglichen „Mobiliar“. Betrachtet man ein Gebäude aber über eine Zeitspanne von 100 Jahren oder länger, wird schnell deutlich: Viele Teile des Gebäudes durchlaufen mehrere Zyklen der Veränderung.
Die genaue Bewertung der voraussichtlichen Lebensdauer eines Gebäudes und seiner Teile ist für einen ökonomisch sowie ökologisch nachhaltigen Entwurf unabdingbar und beugt zufälligen, nur vordergründig wirtschaftlichen Entscheidungen in der Planungs- und Bauphase vor [6] (Bild 7).
Die voraussichtliche Lebensdauer von Bauteilen und Materialien wird durch verschiedene Einflussfaktoren bestimmt. Zu Beginn steht die Qualität der Komponenten, hierzu zählen etwa die Herstellung und Lagerung sowie der Transport und die Materialgüte. Planende sind besonders für die Konstruktionsqualität, bspw. den konstruktiven Schutz der Bauteile, verantwortlich (z. B. durch Vordächer, konstruktiven Holzschutz, Opferbretter). Die Ausführungsqualität auf der Baustelle wird durch die Ausführenden, aber auch durch die klimatischen Bedingungen beeinflusst. Den Entscheidungen der Planenden sollten dabei stets die zu erwartenden konkreten Gebrauchsbedingungen, in Bezug auf Nutzungsintensität und Instandhaltungsqualität, zugrunde liegen. Durch Instandsetzungsmaßnahmen sowie technische Verbesserungen kann die Qualität sogar über das Eingangsniveau gehoben werden (bspw. Dielenboden schleifen und ölen, Beschläge und Dichtbänder beim Fenster tauschen).
Unter Berücksichtigung der genannten Einflussgrößen ist eine dauerhafte Funktionsfähigkeit wahrscheinlich, sie führt zu einer hohen technischen Lebensdauer.
Neben den erwähnten materialbezogenen Einflussfaktoren sind im Besonderen die nutzerspezifischen Ansprüche eine wichtige Größe bei der Bemessung der voraussichtlichen Lebensdauer. Dynamische und individuelle Lebensläufe, Nutzerwechsel und sich ändernde ästhetische Ansprüche führen oft zu Umgestaltungen, obwohl das Ende der technischen Lebensdauer der Bauteile noch nicht erreicht ist. Idealerweise sind Gebäude und Bauteile so gestaltet, dass die Nutzungsdauer die gesamte technische Lebensdauer ausschöpft.
Somit sollte man eine differenzierte Betrachtung der Bauteile vornehmen:
- Die Struktur des Gebäudes sollte möglichst nutzungsneutral entworfen werden, sodass sie verschiedenste räumliche Anpassungen und Änderungen ermöglicht.
- Verschiedene Nutzungsszenarien sollten schon im Entwurf mitgedacht werden.
- Die Anpassung kann über raumbildende Bauteile aus ökologisch tragfähigen und preiswerten Materialien gewährleistet werden.
Die Zyklen dabei möglichst auszudehnen und dadurch den Umbau zu verzögern, ist eine gute Idee. Irgendwann ist trotzdem die Zeit gekommen, dass bestimmte Teile erneuert oder zumindest verändert werden müssen. Eine konsequente und bereits in der frühen Planung angedachte Systemtrennung erleichtert das enorm.
Damit ist eine Trennung technischer und baulicher Systeme gemeint. Ein Heizkörper ist z. B. leichter auszutauschen als eine Fußbodenheizung.
3.2.1 Umsetzung in den Forschungshäusern
Die Konstruktion und Fügung der Bauteile ist so gestaltet, dass Flächenverbindungen möglichst vermieden und alle Bauteilschichten zugänglich und lösbar oder mit Einzelverbindungen ausgebildet wurden. Dadurch erhöht sich die Reparatur- und Austauschfähigkeit und somit die Lebensdauer der einzelnen Bauteile.
Beim Entwurf wurde darauf geachtet, dass die Gewerke nacheinander und nicht, wie oft üblich, gleichzeitig am Bau arbeiten. Überschneidungen wurden so weit wie möglich vermieden. Das sorgt einerseits für einen problemärmeren Bauablauf, hat aber auch den wertvollen Nebeneffekt, dass bei späteren Änderungen quasi in umgekehrter Reihenfolge wieder zurückgebaut werden kann, ohne unnötige Zerstörungen zu produzieren.
Der ausführenden Firma des Rohbaus war z. B. nicht bekannt, dass eine Loggia – in Bild 8 jeweils rechts unten im Plan – geplant ist. Erst durch die Ausbaugewerke wurden an der gewünschten Stelle Geländer statt der Fenster eingebaut und die Fassade als Holzrahmenwand zurückversetzt. Eine Auswirkung dieser Vereinfachung der Konstruktion ist, dass man die Loggia über eine Stufe nach oben betreten muss, da hier eine Dämmung für die darunterliegende Wohnung aufgelegt ist. Das Beispiel veranschaulicht gut die Grundhaltung der Planung, die das vorangegangene Gewerk wie einen Bestandsbau behandelt. Dadurch ist man gezwungen, Konstruktionen so zu wählen, dass sie in vielen Jahren, wenn es sich dann im Umbau tatsächlich um ein Bestandsgebäude handelt, einfach verändert werden können. Um beim Beispiel der Loggia (Bild 9) zu bleiben: Diese könnte zu jeder Zeit im Gebäude „umziehen“. Auch bei der Gebäudetechnik wurde die Trennung der Gewerke angestrebt. Leitungen sind in wenigen Steigschächten zentral gebündelt und führen direkt an Badfertigzellen vorbei durch die Wohneinheiten. Alle Bedienelemente wie Unterverteilung und Absperreinrichtungen sind möglichst dicht an diesem Schacht positioniert. Die weitere Verteilung erfolgt revisionierbar in Sockelleisten oder einfach als Aufputzinstallation.
3.3 Robuste Technik
Etwa 20 % der gesamten Lebenszykluskosten eines Gebäudes fallen während der Planungs- und Bauphase an. Die restlichen 80 % der Kosten gehören zur Nutzungsphase. Ein großer Teil dieser Kosten entfällt auf den Energieverbrauch. Seit einigen Jahren wird versucht, diesen Verbrauch zu senken, indem z. B. mehr Dämmung verbaut bzw. nachgerüstet wird. Auch technische Systeme, z. B. die Wohnraumlüftung mit Wärmerückgewinnung, stehen im Ruf, den Energieverbrauch des Gebäudes und die damit einhergehenden Kosten und negativen Umweltauswirkungen zu reduzieren.
Dass diese Maßnahmen aber häufig nicht die gewünschten Einsparungen erreichen, zeigt das Beispiel in Bild 10: In der Wohnsiedlung Klee in Zürich-Affoltern wurden in einer Langzeitmessung die Daten der Lüftungssysteme aufgezeichnet [7]. Die materialintensive zentrale Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung wurde über den gesamten Lebenszyklus verglichen mit dem einfachen Konzept der Fensterlüftung mit Badabluft.
Es stellte sich heraus: Der Mehraufwand bei Technik, Betriebsenergie, Unterhalt und Wartung übersteigt die erzielte Einsparung der Heizenergie bei Weitem. Bild 10 zeigt sogar, dass die zentrale Lüftungsanlage gegenüber der Fensterlüftung mit Badabluft einen dreifach erhöhten negativen Einfluss auf die Erderwärmung (Treibhausgaspotenzial) produziert.
Immer, wenn theoretisch berechnete Ergebnisse von der Praxis abweichen, spricht man von einem Performance Gap, also einer Lücke zwischen Theorie und Praxis.
Der Performance Gap zwischen Planung und Betrieb entsteht hauptsächlich auf den Ebenen der Gebäudetechnik und des Nutzerverhaltens. Das Konzept Einfach Bauen versucht, diese Lücke durch reduzierte und robuste Technikkonzepte möglichst klein zu halten.
Zuerst sollen hier die drei wichtigsten Effekte, die diese Lücke erzeugen und die bereits mehrfach untersucht wurden, kurz beschrieben werden [8−10].
1. Das Verhalten der Nutzerschaft wird falsch eingeschätzt.
Nutzerinnen und Nutzer verhalten sich anders als prognostiziert: In energetisch optimierten Gebäuden lassen sich während der Heizperiode durchschnittlich höhere Innenraumtemperaturen oder häufigeres Fensteröffnen beobachten. Das heißt, Nutzerinnen und Nutzer verschwenden bei Gebäuden mit erhöhtem Wohnkomfort durch ihr Verhalten mehr Energie als erwartet. Dieser Effekt wird Rebound-Effekt genannt.
Im Gegensatz dazu verhält sich die Nutzerschaft in Altbauten im Durchschnitt energiesparender als prognostiziert. Zum Beispiel werden hier im Winter nur Teile der Wohnung bzw. des Hauses beheizt oder es wird nur reduziert gelüftet. Dies wird als Prebound-Effekt bezeichnet [11].
Ein anderer Grund sind die statischen Komfortmodelle und vereinfachte Berechnungsmethoden nach Norm, die die Nutzerinnen und Nutzer nicht realistisch und flexibel genug abbilden [12−14]. Seit den 1950er-Jahren gab es mehrere Studien, die zur Erhebung von Verhaltensdaten durchgeführt wurden [15]. Bisher stützt sich die Theorie auf statistische Modelle, die auf solchen empirischen Datensätzen basieren [16]. Hinter diesen Daten steht jedoch eine eingeschränkte Anzahl an Nutzerinnen und Nutzern, deren Komfortempfinden nur in einer Laborumgebung getestet wurde.
2. Die technischen Systeme funktionieren nicht richtig.
Wer technische Systeme betreibt bzw. Energie plant, erlebt bspw., dass die Stellmotoren der Fußbodenheizung nach dem Einbau nicht von „manuell“ auf „automatisch“ umgestellt werden oder dass die Fotovoltaikanlage mangels verständlicher Anlagenbeschreibung keinen PV-Strom in das öffentliche Netz ausspeist [17]. Ohne eine regelmäßige und konsequente Kontrolle – also ohne Monitoring – fallen diese Fehler nicht auf, obwohl sie leicht zu beheben sind und einen großen Einfluss auf den Energieverbrauch haben.
Vor allem im Geschosswohnungsbau lässt sich beobachten: Nutzerinnen und Nutzer in Gebäuden mit maschineller Lüftung und Wärmerückgewinnung öffnen trotzdem die Fenster, sodass der gemessene Energiebedarf den prognostizierten um ein Vielfaches übersteigt. Hingegen wird bei natürlich gelüfteten Häusern der prognostizierte Energiebedarf eingehalten oder sogar leicht unterschritten. Eine maschinelle Lüftung ist demnach im Geschosswohnungsbau keine robuste Lösung [18].
3. Der Verbrauch für den Betrieb der technischen Systeme wird unterschätzt.
Generell sind heutzutage die Komponenten für ein technisches Anlagensystem in guter Qualität mit geringem Energiebedarf auf dem Markt verfügbar. Es ist aber eine Kunst, diese wie bei einem Puzzle so zusammenzusetzen, dass das System funktioniert und die Bestandteile optimal abgestimmt sind. Am Beispiel von energieeffizienten Pumpen kann dies verdeutlicht werden: Trotz energiesparender Technologie sind die hydraulischen Systeme meist mit viel zu hohen Druckverlusten behaftet, sodass der Energiebedarf des Pumpstroms oft unnötig hoch ist. Mangelhaft eingestellte Betriebspunkte und eine falsche Auslegung führen zu diesen hohen Energiewerten.
Um die o. g. Effekte zu reduzieren und den Performance Gap zu schließen, sollten bei der Konzeption der technischen Systeme folgende Ziele verfolgt werden:
1. Nutzerinnen und Nutzer regeln selbst
Anstelle komplexer Regelungstechnik, welche den Innenkomfort statisch regelt, sollen die Nutzerinnen und Nutzer den Komfort selbst nach ihrem individuellen Empfinden adaptiv regeln können (Nutzerinteraktion). Zusätzlich ist es sinnvoll, sie zu sensibilisieren, damit sie nicht unwissentlich unnötig Energie verschwenden (Nutzerbewusstsein). Die Erfahrung zeigt, dass sie sich thermisch komfortabler fühlen, wenn sie selbst eingreifen können [9, 18].
2. So einfach wie möglich
Nur das Nötigste einbauen! Eine einfache Gebäudetechnik ist gegenüber komplexen Systemen weniger anfällig bez. Systemfehlern, Fehlbedienungen und Ausfällen technischer Komponenten. Eine einfache Technik kann auch noch in vielen Jahren einfach gewartet und verändert werden. Nur wenn man das Techniksystem in seiner Gesamtheit erfassen kann, ist es möglich, in der Konzeption, aber auch bei zukünftigen Veränderungen die richtigen Entscheidungen zu treffen. Eine einfache Gebäudetechnik, im Sinne von robusten, passiven und gleichzeitig nutzergeregelten Systemen, führt nicht nur zu einem reduzierten Energiebedarf und geringeren Installationskosten, sondern erhöht gleichzeitig die Nutzerzufriedenheit (s. Punkt 1. Nutzerinnen und Nutzer regeln selbst) und reduziert den Performance Gap.
3. Technik richtig bewerten
Je weniger Technik in einem Gebäude betrieben werden muss, desto weniger Energie wird für dessen Betrieb benötigt. Zusätzliche Techniksysteme sollten nur dann Anwendung finden, wenn diese auch bei abweichendem Verhalten der Nutzerschaft noch erfolgreich funktionieren. In die Bewertung sollten nicht nur die Kosten für die zusätzliche Technik selbst, sondern auch der Platzbedarf, der Wartungsaufwand und der Energieverbrauch im Betrieb mit einbezogen werden – und künftig auch die Umweltauswirkung in Form des Treibhausgaspotenzials.
3.3.1 Umsetzung in den Forschungshäusern
Bei den Forschungshäusern sorgen die Nutzerinnen und Nutzer selbst für Frischluftzufuhr über die Fenster. Die Wärmeversorgung erfolgt vor Ort über ein vorhandenes Biogas-Blockheizkraftwerk. Die Heizung wird über die Thermostatventile der Heizkörper gesteuert, die Beleuchtung über Lichtschalter.
Das ganz normale Wohnen produziert zusätzliche Feuchtigkeit im Raum, sei es durch Atmen, Kochen, Duschen, Wäschetrocknen oder Grünpflanzen. Wenn diese Feuchte über längere Zeit nicht durch Lüften wieder aus dem Haus gebracht wird, kann es sein, dass es zu Schäden am Gebäude kommt. Zum Beispiel, weil die Feuchte in der Luft an der Innenseite der Außenwände kondensiert. In den durchfeuchteten Bauteilen kann dann Fäule oder Schimmel entstehen. Um das zu vermeiden, wird in manchen Mietverträgen eine bestimmte Mindestlüftung durch die Bewohnerinnen und Bewohner festgelegt. Das Ziel dieser Festlegungen ist es, die Feuchte in der Luft zu kontrollieren. Problematisch ist dabei, dass die Verantwortung für Feuchteschäden dadurch auf die Mieterinnen und Mieter übergeht.
Die Forschungshäuser wurden dagegen so konzipiert, dass die darin Wohnenden sich so verhalten können, wie sie möchten. Es gibt keinen Lüftungszwang. Bei geschlossenem Fenster wird der Mindestluftwechsel zum Feuchteschutz über Lüftungsschlitze im Fensterfalz – sog. Fensterfalzlüfter – erreicht. Der Luftaustausch wird über die Abluftventilatoren in den innen liegenden Bädern angeregt (Bild 11). Diese sind mit einem Feuchtesensor ausgestattet, der so lange mit ca. 3 W Leistung Luft absaugt, bis der eingestellte Grenzwert von 60 % relativer Luftfeuchte unterschritten ist. Wird das Bad benutzt, schaltet der Abluftventilator auf Normalbetrieb hoch (ca. 6 W). Der betätigte Lichtschalter gibt das Signal zum Normalbetrieb.
Während der Langzeitmessung werden über einen Zeitraum von zwei Jahren sowohl der Energieverbrauch als auch das Raumklima und das Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer erfasst. Aus den gewonnenen Daten lässt sich dann ableiten, wie die angewandte Strategie in den Forschungshäusern in der Praxis funktioniert. Die erhobenen Daten sollen dabei helfen, das Verhalten der Nutzerschaft besser zu verstehen. So ist es zukünftig möglich, Optimierungen besser auf Praxistauglichkeit einzustellen. Mit den Messdaten können auch die bisher verwendeten Simulationstools überprüft und für die Zukunft kalibriert werden. Die Ergebnisse der Messungen werden voraussichtlich Anfang 2023 über die Webseite www.einfach-bauen.net veröffentlicht.
Literatur
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bei-energetischen-verbesserungen [Zugriff am: 2. Juni 2021] - DIN V 4108-6 Wärmeschutz und Energie-Einsparung in Gebäuden − Teil 6: Berechnung des Jahresheizwärme- und des Jahresheizenergiebedarfs. Berlin: Beuth.
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Autorinnen und Autoren
Dipl.-Ing. (FH) Architekt Tilmann Jarmer, M.A.,
tilmann.jarmer@tum.de
Dipl.-Ing. Architektin Anne Niemann, anne.niemann@tum.de
Laura Franke, M.Sc., laura.franke@tum.de
Johannes Sack, M.Sc., johannes.sack@tum.de
Technische Universität München
TUM School of Engineering and Design